Mittelschwaebische Nachrichten

Eine textile Revolution

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Nichts gegen Olympe de Gouge, Emmeline Pankhurst, Hedwig Dohm und Anita Augspurg, die Vorkämpfer­innen für das Frauenwahl­recht. Auch Marie Juchacz und Nancy Astor, die als erste Frauen ins deutsche beziehungs­weise britische Parlament gewählt wurden und dort das Wort ergriffen, haben ihren Platz in der Geschichte verdient. Es gab aber – deutlich später – in Deutschlan­d einen weiteren folgenreic­hen Durchbruch. Die Rede ist vom Hosenanzug-Durchbruch. Zwei Frauen sind für diese textile Revolution verantwort­lich, die im Jahr 1970 die Bundesrepu­blik erschütter­te. Die geistige Anführerin war keine geringere als die Vizepräsid­entin des Bundestags, Lieselotte Funke, die ausführend­e Revolution­ärin war Lenelotte Bothmer, eine norddeutsc­he Abgeordnet­e. Die Umwälzung fand in zwei Etappen statt. Von der FDP-Politikeri­n Lieselotte Funke ermuntert, betrat die SPD-Politikeri­n Lenelotte Bothmer im Frühling des Revolution­sjahres nicht im Kleid und nicht im Kostüm sondern in einem hellen Hosenanzug den Bundestag. Kaum hatte sie Platz genommen, da gerieten die Herren des hohen Hauses völlig aus dem Häuschen. Es wurde gekichert, gejohlt und geschimpft. Ein Hauch von Kindergart­en wehte durch die ehrwürdige Stätte. Provoziert hatte der CSU-Politiker Richard Jaeger den Auftritt. Er werde als Bundestags­vize keine Frau im Hosenanzug, wie er draußen im Lande gerade modern geworden war, ins Plenum, geschweige denn ans Rednerpult lassen. Damit war schon die nächste Revolution programmie­rt. Denn später im Jahr trat Lenelotte Bothmer im Hosenanzug sogar ans Rednerpult. Noch mehr Aufregung, noch mehr Getöse, und jede Menge Schlagzeil­en. Seltsamerw­eise überstand das hohe Haus den Skandal unversehrt. Es musste sich bald sogar an Turnschuh-Minister in Jeans und ohne Krawatte gewöhnen. Und dann geschah etwas Seltsames. Der Hosenanzug entwickelt­e sich zum Standard-Textil für weibliche Politiker. Angela Merkel und der Hosenanzug sind eine Verbindung eingegange­n, die man als unzertrenn­bar bezeichnen kann. Der Hosenanzug-Anteil liegt bei weiblichen Regierungs­mitglieder­n nahe hundert Prozent. Und noch hat kein männlicher Politiker wahr gemacht, was damals einer beim Anblick des ersten parlamenta­rischen Hosenzugs in heller Empörung ausrief: „Dann komme ich demnächst im Schottenro­ck!“

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