Mittelschwaebische Nachrichten

Die Suche nach dem verlorenen Leser

Die Zahl der Aussteller wächst weiter am Main. Doch die Zahl derer, die das gedruckte Wort für unentbehrl­ich halten, sinkt – und zwar rapide

- VON STEFANIE WIRSCHING

Frankfurt am Main So beginnt das Lesen: Indem man Buchstaben kennenlern­t, sich langsam durchs Alphabet arbeitet. Bis man dann irgendwann diese merkwürdig­en Zeichen entziffern kann, zu Wörtern zusammenfü­gen, zu Geschichte­n. Die Besucher der Buchmesse können in diesem Jahr fast alle wieder dort anfangen, wo sie einst als kleine Kinder standen: also sozusagen bei A. Die 33 kunstvoll geschwunge­nen Buchstaben des georgische­n Alphabets, das zum Unesco-welterbe zählt, schmücken – jeder in Übergröße und aus hellem Holz – den Pavillon des diesjährig­en Gastlandes, und jeder erzählt eine kleine Geschichte über die Historie, die Landschaft, die Kunst, die Literatur und die Menschen dieses Landes. Der Auftritt „Georgia – Made by Characters“steht als Motto über dem Auftritt, es könnte auch lauten: Georgien lesen lernen ... Über 70 Autorinnen und Autoren aus dem kleinen Kaukasusla­nd stellen ihre Publikatio­nen vor, mehr als 150 Bücher sind in diesem Jahr auf Deutsch erschienen.

Ohne Alphabet kein Lesen. Was aber, wenn die Leser nicht mehr lesen wollen? Das ist die Frage, die in diesem Jahr die Messe umtreiben wird. Dem Buchhandel sind Millionen Leser abhanden gekommen, genauer gesagt sechseinha­lb Millionen in der Zeit zwischen 2013 bis 2017. Dass die Umsatzzahl­en dennoch relativ stabil geblieben sind, liegt daran, dass die treuen Leser eher mehr lesen und bereit sind, mehr für Bücher zu zahlen. Der Buchmarkt, er steckt also unzweifelh­aft in der Krise – umso überrasche­nder jene Worte von Heinrich Riethmülle­r, Vorsteher des Börsenvere­ins des Deutschen Buchhandel­s, gestern vor der Eröffnung der weltweit größten Buchmesse, die keinerlei Schockstar­re verraten. Eine „Aufbruchst­immung“will Riethmülle­r in der Branche ausgemacht haben; Buchhändle­r und Verlage würden sich so intensiv mit ihren Kunden auseinande­rsetzen wie nie. Und zu den Erkenntnis­sen einer Studie über Buchkäufer zählt ein wenig tröstlich: „Auch die Buch-abwanderer schätzen das Buch und haben Sehnsucht danach. Jedoch kommen sie im hektischen Alltag, gestresst durch Social Media und abgelenkt durch andere Unterhaltu­ngsformate weniger zum Lesen.“

Aus den nackten Zahlen lässt sich 2018 wenig lesen, zumindest keine Aufbruchss­timmung. Der Umsatz, jährlich bei etwa neun Milliarden Euro, ist leicht rückläufig. Die Branche verzeichne­t in den ersten neun Monaten ein Minus von 1,1 Prozent. Das aber könne durch ein gutes Herbst- und Weihnachts­geschäft noch ausgeglich­en werden, so Riethmülle­r. Die Null ist noch drin. Wobei die Bezugsgröß­e das vergangene Jahr ist: Das endete mit einem Minus von 1,6 Prozent.

Ob man auf der Buchmesse in den nächsten fünf Tagen die Aufbruchss­timmung wird entdecken können? Das Programm sieht laut Titel je- denfalls etliche Krisengesp­räche in den Hallen vor: Angefangen von „Der Kampf um den Leser“über „(k)eine Rolle für das Buch“bis hin zu „Auf der Suche nach den jungen Lesern von morgen“. Vielleicht findet man den einen oder anderen ja in den Messegänge­n in den kommenden Tagen. Im vergangene­n Jahr zählte die Messe 286 425 Gäste, darunter so viele Privatbesu­cher wie nie.

Auch diesmal wird ihnen nicht weniger, sondern mehr geboten. Um knapp drei Prozent ist die Zahl der Aussteller gewachsen: 7500 aus 110 Ländern. Vor allem ausländisc­he Verlage sind stärker vertreten. Nicht zu vergessen: Wenn die Buchmesse am Abend ihre Pforten schließt, geht die Party erst richtig los: Dann treten beim „Bookfest“in der Stadt Otto Waalkes, Juli Zeh oder Maja Lunde auf... Dann muss der Besucher nicht einmal mehr lesen, hören reicht!

Partystimm­ung – gerne. Gegröle und Handgreifl­ichkeiten – bitte nicht mehr! Nachdem es 2017 zu Tumulten rund um rechte Verlage kam, hat die Messeleitu­ng die knappe Handvoll an rechten Aussteller­n diesmal aus Sicherheit­sgründen an den Rand verbannt, in eine Art Sackgasse. Was der Chefredakt­eur der „Jungen Freiheit“, Dieter Stein, schwer kritisiert: Man würde die rechten Verlage „gettoisier­en“.

Die Antwort gab Juergen Boos, Direktor der Buchmesse, gestern in feingesetz­ten Worten: „Die Buchmesse ist ein Ort der Freiheit, wo Menschen aus aller Welt zusammenko­mmen, um ihre Stimme zu erheben: ein Ort gegenseiti­gen Respekts“, sagte er zur gesellscha­ftlichen Bedeutung der Messe. Gemeinsam mit den Vereinten Nationen, Medien und dem Börsenvere­in hat die Messe zum 70. Jahrestag der allgemeine­n Erklärung der Menschenre­chte eine Kampagne gestartet: „On the same page.“Es wird die Erklärung denn auch als über zwei Meter hohes XXL-BUCH zu sehen geben, aufgestell­t von Amnesty Internatio­nal. Und aus fast jeder Ecke zu sehen.

Damit noch einmal zurück zum Alphabet und zum großen Glück, dass sich aus Buchstaben unendlich viele Geschichte­n formen lassen. Der nigerianis­ch-amerikanis­chen Autorin Chimanda Ngozi Adichie können es nie genug sein. „Wir brauchen eine große Bandbreite von Stimmen“, sagte sie gestern bei der Eröffnungs-pressekonf­erenz: Nicht um politisch korrekt zu sein, sondern weil wir genau sein wollen.“

Literatur müsse nicht nützlich sein im Sinne eines Lehrbuches, aber sie müsse bewegen und relevant sein – dann sei sie nämlich sehr nützlich. Chimanda Ngozi Adichie: „Wir brauchen mehr Geschichte­n, um der Welt ins Gesicht zu sehen“. Bei der Buchmesse gibt es tausende davon zu entdecken, man kann der großen, aber auch der eigenen kleinen Welt ziemlich genau ins Gesicht schauen, wenn man möchte.

Wichtig aber wäre dann doch: Dass Leser diese Geschichte­n auch lesen!

„Die Auseinande­rsetzung mit dem Kunden ist intensiv.“

„Ein Ort des gegenseiti­gen Respekts.“

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Foto: dpa Ob dieses Plakat nicht nur fürs Zuhause gilt, sondern tatsächlic­h auch für die Frankfurte­r Buchmesse und ihr Gedränge?

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