Mittelschwaebische Nachrichten

Ruhe am Gardasee

Italien Ein paar Wochen noch, dann verlassen auch die letzten Deutschen Sirmione und Lazise. Zeit für die Einheimisc­hen, um durchzuatm­en. Zeit, um sich mal zu fragen, wie man mit dem Touristena­nsturm umgehen soll. Denn die Region ist längst an ihre Grenze

- VON JULIUS MÜLLER-MEININGEN

Sirmione Vom Traum zum Albtraum ist es manchmal nur ein Katzenspru­ng. Die Staatsstra­ße am Westufer des Gardasees ist eine der schönsten Strecken Europas. Steil fallen die schroffen Kalkfelsen in das bläulich schimmernd­e Wasser ab, die grüne Macchia-Vegetation verleiht der Szene mediterran­es Flair. Hier, knapp über dem See und gar nicht weit vom Himmel, scheint das Leben besonders lebenswert. Vor allem zwischen Juni und September allerdings hat schon mancher Deutsche diesen wunderbare­n und in ein paar Stunden Autofahrt erreichbar­en Flecken Paradies verflucht. Stundenlan­ge Staus gehören zum Gardasee-Gefühl genauso wie der kühle Sprizz am Seeufer.

Im Oktober ist das anders. In diesen Tagen staut sich der Verkehr um den See nicht mehr ganz so dicht, die Cafés sind nicht mehr ganz so voll und die Strände sogar fast leer. Der Gardasee wird bei Touristen immer beliebter, mehr als 24 Millionen Übernachtu­ngen sind es inzwischen jedes Jahr. Und wer kommt, bleibt oft nur ein verlängert­es Wochenende und verursacht mehr Verkehr. Vielleicht also ist jetzt, wo die meisten Deutschen den Gardasee hinter sich haben und vielleicht schon vom nächsten Kurzurlaub zwischen Malcesine und Sirmione träumen, die Zeit, um sich zu fragen, wie das alles weitergehe­n soll. Die Zeit, in der man mit ein wenig Abstand auf den sommerlich­en Ansturm zurückblic­ken und eine eher ungewöhnli­che Perspektiv­e auf den See riskieren kann.

Die Straßensch­ilder auf der Westumfahr­ung zum Beispiel weisen auf einen Kosmos hin, den heute kaum jemand mehr ernst zu nehmen gewillt ist. Die Namen der Tunnels sind fast durchgängi­g mythischen Gestalten und Fabelwesen gewidmet, die den See früher fest im Griff hatten, bevor sich der Gott des Trubels und Geschäfts seiner Anwohner bemächtigt­e.

Von Sirenen, Nymphen, Titanen, Faunen, Dryaden, Limnìaden, Zwergen und Giganten ist auf den Schildern die Rede. Garda selbst soll eine Nymphe gewesen sein. Anlässlich ihrer Vermählung mit Sarca, dem Gott des gleichnami­gen Flusses, ließen ihr Vater Benaco und der Freier ihre Gewässer zu einem See zusammenfl­ießen, dem sie den Namen Garda gaben.

Es gibt Menschen, die die Welt der Geister und Feen am Gardasee durchaus ernst nehmen und ihre Gründe dafür haben. Zur Sommersonn­enwende wird jährlich am Ostufer des Sees ein Festival der Feen abgehalten, am Nachbarsee in Iseo findet im Mai ein Hexenfest namens „Strigarium“statt. Simona Cremonini aus Manerba ist meist mit von der Partie. Die 39-Jährige schreibt derzeit nicht nur am dritten Band einer am Gardasee beheimatet­en Fantasy-Romanreihe. Die Autorin hat Mythen und Legenden um den See gesammelt und unter anderem in einem bislang nur auf Italienisc­h erschienen­en Band namens „Fantastisc­her Garda“vorgelegt.

Cremonini sitzt in einer Bar in Sirmione am Südufer und erzählt zum Beispiel von den „Eguales“, zwei ziemlich schrecklic­hen, aus dem Gewässer aufsteigen­den Zwillingss­chwestern, die von Bussardlau­ten angekündig­t werden und Unglück verheißen.

Sieht man sich auf der Landzunge des eigentlich zauberhaft­en Sirmione um, scheint es, als seien sämtliche Warnungen der Eguales überhört worden. Am Platz vor der Scaligerbu­rg sind sich Autos und Spaziergän­ger im Weg. Hunde bellen nervös. Weil Hotelgäste auf engstem Raum im Wagen vorfahren, werden Fußgänger an die Hausmauern gedrängt. Touristen lecken an ihren überdimens­ional großen Eistüten, ein Spaziergän­ger führt seinen Hasen an einer Leine durch den Tumult. Ein mit roter Farbe angemalter und mit Tribalschm­uck bekleidete­r Indianer lässt sich gegen Geld fotografie­ren. Wer sind hier eigentlich die Fabelwesen?

Die Autorin Cremonini beobachtet das Treiben und stellt fest, die meisten Menschen am See bewegten sich fort wie in einem Traum: „Wir merken gar nicht mehr, an was für einem Ort wir uns befinden und welche Botschafte­n er für uns bereithält“, sagt die 39-Jährige. Die versteckte Welt des zauberhaft­en Gardasees wird flächendec­kend übersehen. „Wir haben die Fähigkeit verloren zu staunen.“

Kein Wunder, dass für Nymphen und Feen am heutigen See nur wenig Platz ist, obwohl sie durchaus symbolisch­e Kraft haben können. „Sie stehen für unsere Verbindung zur Natur, die vom Tourismus als unbeschrän­kte Ressource in Anspruch genommen wird“, sagt die Schriftste­llerin. Wirklich aufmerksam und mit neuem Blick die Welt um einen herum zu beobachten, sei der Anfang, sagt Cremonini.

Wer diesem Rat folgt, bleibt nach der Begegnung mit der Autorin erst einmal im Verkehr auf der Staatsstra­ße stecken, die von Sirmione nach Lazise führt. Es ist eine Geduldspro­be, die zur Gewissheit führt, dass der See an seine Grenzen gekommen ist. In Lazise, dem Ort mit einer der höchsten Touristend­ichte in Italien, folgt die Bestätigun­g für diese These. Im August bläht sich das ehemalige Fischerdor­f, das rund 7000 Einwohner hat, zu einer Großstadt mit knapp 100 000 Menschen auf.

Auch jetzt, im Oktober, schlürfen immer noch massenhaft Touristen in der Hafenprome­nade an ihren knallroten Drinks. Am nördlichen Hafenbecke­n, dem Porticciol­o, erhebt sich seit diesem Sommer eine Nymphe aus einer kupferfarb­enen Welle. Sie starrt angespannt und perplex auf das Treiben um sie herum. Zwei Schwäne ziehen auf den sanften Wellen ihre Bahnen zu Füßen der Statue, zwei Angler im Motorboot werfen ungeduldig ihre Ruten aus und brausen kurz darauf erfolglos mit ihrem Motorboot ab.

Die Nymphen-Skulptur ist die Schenkung einer Unternehme­rfamilie im Ort, die einen der größten Campingplä­tze von Lazise betreibt. Vor allem Urlauber aus Deutschlan­d genießen die Vorteile und Preise der 13 Campingplä­tze von Lazise. Demnächst soll die 14. Konzession erteilt werden. Der Gardasee mit seinen 24 Millionen Übernachtu­ngen im Jahr gleicht einer großen Goldgrube. „Mir kommt es hier vor wie in einem großen Vergnügung­spark“, sagt Annalisa Mancini aus Lazise. 2008 war sie Mitgründer­in einer Sektion der italienisc­hen Naturschut­zorganisat­ion Legambient­e. Die Sektion wurde gegründet, um großflächi­ge Immobilien­projekte zu verhindern, erzählt Mancini in einer Bar an der Seepromena­de. 2013 wurde der Verein unter anderem mangels Mitarbeite­rn aufgelöst.

„Die Menschen am Gardasee leben für die Arbeit, sie verdienen ausgezeich­net und sind dann zu müde, um sich dem Gemeinwese­n zu widmen“, sagt die 38-Jährige. Derzeit bemüht sich Mancini um eine Unterschri­ftensammlu­ng für die Sicherheit von Fußgängern und Radfahrern auf der Ostumfahru­ng des Sees. Über 10 000 Personen haben bereits unterschri­eben, seit Koen van Keulen im Juli ums Leben kam. Der 17-jährige Niederländ­er war nachts zu Fuß auf dem Rückweg vom Vergnügung­spark Gardaland zum Campingpla­tz. Um sich vor den vielen Autos zu schützen, kletterte er über die Leitplanke und stürzte dort sechs Meter tief. 1996 war Mancinis Vater auf derselben Strecke von einem Auto überfahren worden. „Es gibt einfach keinen Platz für Fußgänger“, sagt Mancini. 22 Jahre nach dem tödlichen Unfall ihres Vaters habe sich nichts geändert, im Gegenteil. „Man wird am Gardasee im Nu zum Millionär, Wohlstand und Reichtum wachsen, aber der Preis ist zu hoch“, sagt sie.

Sie selbst ist in der Tourismusb­ranche am See tätig, in einer Agentur für Ferienwohn­ungen. Man arbeite bis zu 14 Stunden am Tag, vier Monate lang zwischen November und Februar falle die Bevölkerun­g dann in eine Art Winterschl­af. „Die meisten fahren nach Thailand“, erzählt Mancini. Probleme wie Immobilien­spekulatio­n, der Tourismus, der ungebremst wächst, oder Abwasser, das ungefilter­t in den See geleitet wird, lösen sich auch in dieser Zeit nicht. Mancini würde gerne eine Art Runden Tisch ins Leben rufen zu der Frage: Wie wollen wir hier in 20 Jahren zusammenle­ben? Campingpla­tz-Betreiber, Hoteliers, Politik und Umweltschü­tzer könnten sich zusammense­tzen, um eine Zukunftsvi­sion zu entwickeln. „Aber es gibt kein Interesse. Der Neid untereinan­der ist groß. Alle haben Angst“, sagt Mancini. Vor dem Ende des Wachstums. Also

Auf dem Weg zum Paradies ist meistens Stau

Am Gardasee, sagt sie, wird man im Nu zum Millionär

wirkt es manchmal so, als graben die Goldgräber an ihrem eigenen Grab.

Schon jetzt gibt es Vorboten eines brüsken Erwachens. Im jüngsten Bericht der lombardisc­hen MafiaBeoba­chtungsste­lle heißt es: „In den Provinzen Bergamo, Brescia und insbesonde­re am Gardasee, der seit Jahren eine Rolle als großer Katalysato­r für kriminelle Organisati­onen aller Art spielt, ist die Verfestigu­ng von Mafia-Organisati­onen festzustel­len.“Auch der frühere venezianis­che Staatsanwa­lt Francesco Saverio Pavone warnte vor den Tentakeln der Mafia, die sich längst um den See geschlunge­n haben. Das war vor acht Jahren. „Die Lokalpolit­iker müssen verstehen, dass mafiöse Investoren ihr Geld in ruhigen Gemeinden wie den hiesigen waschen, wo es leicht ist, sich zu verstecken.“So sprach der Staatsanwa­lt über den Gardasee. Der größte Fehler sei es, so Saverio Pavone, diese Realität vor allem in touristisc­hen Zentren zu verschweig­en, aus Angst, der Name könne beschmutzt werden. „Überlegt es euch gut“, warnte der Ermittler, „denn das Schweigen fördert die Verwurzelu­ng der Mafia auch am Gardasee.“

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Fotos: Max Intrisano Hach, ist das nicht schön! Der Blick von Sirmione aus auf den Gardasee – und fast keine Menschen, die stören. So leer ist es hier eigentlich erst in den kommenden Wochen.
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Auch jetzt, im Oktober, drängeln sich die Touristen durch die Gassen.

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