Mittelschwaebische Nachrichten

700 000 auf der Straße gegen den Brexit Großbritan­nien

Demonstran­ten klagen: Wir sind zur Lachnummer Europas verkommen

- VON KATRIN PRIBYL

London Am Mittag herrschte Stillstand in Londons sonst so geschäftig­em Zentrum. Massen von Menschen strömten aus allen Richtungen herbei, füllten die Straßen rund um den Hydepark über den berühmten Trafalgar Square bis zum Parlament in Westminste­r, ganz so als wäre ein Damm gebrochen.

Sie hielten Plakate in den wolkenlose­n, blauen Himmel, auf denen sie „eine Stimme für unsere Zukunft“forderten, „das völlige Chaos der Regierung“anprangert­en oder britische Politiker wie Ex-Außenminis­ter Boris Johnson als „Lügner“kritisiert­en. Begleitet von Trompetenm­usik und Trillerpfe­ifen schwenkten sie EU-Flaggen und den Union Jack – vereint im Wunsch, vereint zu bleiben.

Rund 670000 Menschen, so die Angaben der Organisato­ren, protestier­ten am Samstag bunt, laut und friedlich gegen den Brexit. Die Kampagne „People’s Vote“(Volksabsti­mmung), die ein neues Referendum zum EU-Austritt durchsetze­n will, hatte zum Marsch aufgerufen. Am Ende kamen weit mehr als erwartet.

Briten und EU-Bürger aus allen Ecken des Königreich­s und auch vom Kontinent reisten zu diesem „historisch­en Moment“, wie ihn Londons Bürgermeis­ter Sadiq Khan nannte, an. „Was könnte demokratis­cher und britischer sein, als dem Urteil des Volks zu vertrauen?“Brexit-Anhänger kontern regelmäßig, man hätte die Bevölkerun­g im Juni 2016 gefragt und 52 Prozent hätten sich für den Austritt entschiede­n. Nun gelte es, den Willen zu respektier­en und die Scheidung umzusetzen, betonte auch Premiermin­isterin Theresa May vor wenigen Tagen. Aber wie? Die Verhandlun­gen mit Brüssel stocken und die Wahrschein­lichkeit, dass das Königreich ohne Austrittsa­bkommen am 29. März 2019 die EU verlässt, steigt mit jeder Woche.

„Ein chaotische­r Brexit wäre wirtschaft­lich eine absolute Katastroph­e“, schimpfte die 39-jährige Anna, die zum ersten Mal in ihrem Leben für etwas auf die Straße ging. Außerdem fürchtet sich die Medizineri­n davor, dass weitere Pfleger und Ärzte abwandern und das Gesundheit­ssystem dann kollabiert. „Schauen Sie sich das Durcheinan­der doch an. Wir sind zur Lachnummer Europas verkommen.“

Werden die beeindruck­enden Bilder des Protests vom Wochenende auch die in ihrer eigenen konservati­ven Partei massiv unter Druck stehende Regierungs­chefin May beeindruck­en? Sie lehnt eine nochmalige Befragung der Bevölkerun­g kategorisc­h ab. Die Kampagne der Europafreu­nde möchte derweil durchsetze­n, über das noch von London und Brüssel auszuhande­lnde finale Abkommen abzustimme­n. Und zudem die Möglichkei­t erhalten, für Großbritan­niens Verbleib in der Gemeinscha­ft zu votieren.

„Wir wurden getäuscht und man hat die ganze Sache als einfache Angelegenh­eit verkauft“, sagt der 19-jährige Tom, der beim jüngsten Referendum nicht alt genug war, um mitzustimm­en. Etliche Briten hätten für den Austritt votiert, weil sie den falschen Verspreche­n der Brexiters geglaubt haben. Erst jetzt würde man realisiere­n, welche Kosten und Nachteile dieser Schritt verursache. Gleichwohl gab der Student aus Manchester zu, dass „leider“viele Junge beim Referendum vor gut zwei Jahren daheimblie­ben. Das Land sei zu spät aufgewacht. „Aber wir geben nicht auf, es geht um unsere Zukunft.“

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Foto: Rob Pinney, imago Eine schier unübersehb­are Menschenme­nge versammelt­e sich in London nicht nur auf dem Platz vor dem Parlament, um für eine weitere Volksabsti­mmung zum Brexit zu demonstrie­ren.

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