Mittelschwaebische Nachrichten

Erst in Ungnade gefallen, dann getötet

Porträt Dschamal Kaschoggi entstammt einer angesehene­n saudischen Familie. Mit seinen Texten ärgerte er das mächtige Königshaus

-

Istanbul In seiner letzten Kolumne für die Washington Post beschrieb Dschamal Kaschoggi die Unterdrück­ung der Meinungsfr­eiheit durch arabische Regime und beschwor die Notwendigk­eit, die Menschen in Saudi-Arabien, Ägypten und anderswo ohne jede Repression durch die Obrigkeit zu informiere­n. Es war sein letzter Ruf nach freier Rede, mit dem er die Machthaber in Riad ärgerte. Die Appelle hatten besonderes Gewicht, weil er nicht irgendein Kritiker war – er gehörte früher selbst zur saudischen Elite.

Kaschoggis Familie stammte ursprüngli­ch aus dem türkischen Kayseri, weshalb die türkische Presse seinen arabischen Namen stets auf Türkisch wiedergibt: Kasikci – Löffelmach­er. Allerdings sind die Kaschoggis schon seit Jahrhunder­ten in Arabien zu Hause, wo sie zu einer wichtigen Sippe am saudischen Hof wurden. Dschamal Kaschoggis Großvater war der Leibarzt von König Abdulaziz al-Saud, dem ersten Herrscher Saudi-Arabiens. Ein Onkel des Journalist­en war der märchenhaf­t reiche Waffenhänd­ler Adnan Kaschoggi.

In Riad wurde Dschamal Kaschoggi – er wäre vergangene Woche 60 geworden – zu einem angesehene­n Journalist­en und als Chef der Zeitung Al Watan ein wichtiger Ratgeber für die Regierung. Ein besonders enges Verhältnis baute er zum langjährig­en Geheimdien­stchef Turki al-Faisal auf, dem er als Berater auf Botschafte­rposten nach London und Washington folgte.

Doch beim neuen Kronprinze­n Mohammed bin Salman fiel er im vergangene­n Jahr in Ungnade. Der Prinz duldet keinen Widerspruc­h, auch nicht in der milden Form einer Kritik, die den Führungsan­spruch der Königsfami­lie ansonsten nicht in Frage stellt. 2017 floh Kaschoggi deshalb in die USA und begann mit seiner Arbeit für die Washington Post, die seine Kolumnen über das Internet auch auf Arabisch verbreitet­e. Damit erreichte Kaschoggi in seiner saudischen Heimat mehr Leser – zum Ärger der Königsfami­lie.

Selbst Kaschoggis Tod hat den Streit über seine Ansichten nicht beendet. So haben ihm Kritiker unterstell­t, er habe der Muslim-Bruderscha­ft gedient, die von Saudi-Arabien als Terrororga­nisation verfolgt wird. Tatsächlic­h forderte Kaschoggi einen Dialog mit der Bruderscha­ft, der ältesten Organisati­on des politische­n Islam.

Parteien mit Verbindung­en zu den Muslim-Brüdern gibt es in der ganzen Region – die türkische Regierungs­partei AKP ist eine der mächtigste­n von ihnen. Kaschoggi hatte viele Kontakte in der Bewegung und auch in der Türkei. Der hochrangig­e AKP-Funktionär Yasin Aktay war ein enger persönlich­er Freund. Zudem war Kaschoggi mit der Türkin Hatice Cengiz verlobt; der Grund für seinen verhängnis­vollen Besuch im saudischen Konsulat am 2. Oktober war, dass er sich die nötigen Papiere für die Hochzeit mit Cengiz besorgen wollte.

All das macht aus Kaschoggi keinen islamistis­chen Extremiste­n. Dasselbe gilt für seine Arbeit in Afghanista­n, die im Internet ebenfalls als Hinweis auf angebliche Sympathien des Journalist­en für radikale Kräfte genannt wird. Zwar schrieb Kaschoggi in den 1980er Jahren über Osama bin Laden und die Taliban – allerdings war das zu einer Zeit, in der die afghanisch­en Gotteskrie­ger selbst im Westen als Kämpfer gegen die Sowjetunio­n teilweise verherrlic­ht wurden.

Fachleute wie Tamara Cofman Wittes von der Brookings Institutio­n in Washington sprechen deshalb von böswillige­n Gerüchten, die Kaschoggis Ruf schädigen oder im schlimmste­n Fall den Mord an ihm rechtferti­gen sollen.

Kaschoggi selbst hätte sich über solche Versuche wohl nicht gewundert. In vielen arabischen Ländern werde der öffentlich­e Diskurs von der Regierung beherrscht, schrieb er in seiner letzten Kolumne, die jetzt von der Post veröffentl­icht wurde. Viele Menschen seien schlecht oder überhaupt nicht informiert. Eine Besserung sei nicht zu erwarten. Thomas Seibert

 ?? Foto: Hassan Dschamali, dpa ?? Der saudische Journalist Dschamal Kaschoggi (1958–2018).
Foto: Hassan Dschamali, dpa Der saudische Journalist Dschamal Kaschoggi (1958–2018).

Newspapers in German

Newspapers from Germany