Mittelschwaebische Nachrichten

Der größte Demo-Wurm der Welt Geschichte

Die spektakulä­rste Aktion der Friedensbe­wegung wurde in Neu-Ulm auf den Weg gebracht. Doch am Ende war die gesamte Protestakt­ion umsonst

- VON RONALD HINZPETER

Neu-Ulm Zu den Klischees über die Deutschen gehört, dass sie gut organisier­en können. Im Zweifel auch ihre Proteste. Insofern war die Menschenke­tte zwischen Neu-Ulm und Stuttgart ein Meisterwer­k des Dagegensei­ns. Genau vor 35 Jahren, am 22. Oktober 1983, stellte die Friedensbe­wegung ihre spektakulä­rste Aktion auf die Beine. Zwischen 300000 und 400000 Menschen standen auf der 108 Kilometer langen Strecke und fassten sich an den Händen, um gegen die geplante Nachrüstun­g mit Atomrakete­n zu protestier­en. Etwas ähnlich Aufsehener­regendes gelang der Friedensbe­wegung nie wieder. Auf den Weg gebracht wurde die Menschenke­tte in Bayern.

Wobei, um der Wahrheit die Ehre zu geben, ein Badener mit der Idee um die Ecke kam: der Karlsruher Lehrer Ulli Thiel. Bei einer Aktionskon­ferenz der Friedensbe­wegung präsentier­te er im Juni ’83 in NeuUlm seine von vielen als reichlich wahnwitzig empfundene Idee, zwei Militärsta­ndorte im Protest zu verbinden. Es sollte der süddeutsch­e Beitrag für eine große Aktionswoc­he der Nachrüstun­gsgegner sein. Den einen Endpunkt des Demo-Wurms sollte die Kommandoze­ntrale der US-Armee in StuttgartV­aihingen bilden, den anderen die Wiley Barracks in Neu-Ulm.

In dieser Kaserne waren bereits seit 1951 US-Soldaten stationier­t. Nun sollten im Rahmen des NatoNachrü­stungsbesc­hlusses die neuen Mittelstre­ckenrakete­n auch in NeuUlm einen Platz finden. Die Stadt wurde zu einem strategisc­h wichtigen Stationier­ungsort für die umstritten­e Pershing II. Das versuchte die Friedensbe­wegung mit allen Mitteln des zivilen Ungehorsam­s zu verhindern. Zu den bewährten Protestfor­men gehörten etwa Blockaden, so wie das zunächst auch für Neu-Ulm angedacht war. Doch Thiel setzte sich nach ebenso heftigen wie zeitrauben­den Debatten mit seiner verwegenen Idee durch.

Mit rund 100000 Teilnehmer­n hatten die Organisato­ren zunächst geplant. Sie sollten über die Schwäbisch­e Alb bis nach Stuttgart verteilt werden. Um die Lücken zu schließen bekam jeder ein Bändchen, das mit bunten Demo-Männchen bedruckt war, mit auf den Weg. Doch dieses Verlängeru­ngsstöffch­en wickelten sich dann viele als Stirnband um den Kopf, denn die Protestier­enden – von örtlichen Friedensgr­uppen mit Bussen und Sonderzüge­n herangekar­rt – strömten in ungeahnter Zahl heran. Neu-Ulm wurde geradezu geflutet, vor allem bei der Abschlussk­undgebung.

Die Organisati­on lief deutschper­fekt ab, jedes Grüppchen bekam mit Luftballon­s die Marschrich­tung gezeigt. Weil es noch keine Handys gab, wurden vorsorglic­h sämtliche Telefonzel­len entlang der Strecke mit Aktivisten besetzt. Motorradfa­hrer machten Meldung von der Strecke – und in den Nachrichte­n war anschließe­nd eine gewaltige bunte Menschenke­tte zu sehen, die sich in Schlangenl­inien und Doppelreih­en über die Alb wand. Es hatte wider Erwarten funktionie­rt – blieb aber dennoch folgenlos: Die Raketen wurden trotzdem stationier­t.

Neu-Ulm wurde zum wichtigste­n Atomwaffen­standort Bayerns. Die 36 Pershing-II-Raketen lagerten auf dem Wiley-Areal, ein Teil davon war stets in der sogenannte­n Lehmgrube bei Ritzisried im Kreis NeuUlm einsatzber­eit. Doch es gab noch andere Orte im Freistaat, an denen Nuklearwaf­fen lagerten, etwa im Fliegerhor­st Lechfeld oder dem einstigen Fliegerhor­st Memmingerb­erg, dem heutigen Allgäu Airport, im Sondermuni­tionslager Landsberg-Leeder oder der sogenannte­n Bereitscha­ftsstellun­g GörisriedO­chsenhof im Allgäu.

Heute ist aus dem einstigen Raketensta­ndort in Neu-Ulms Süden ein blühender Stadtteil geworden. Die Lehmgrube mitten im Wald nutzt heute das Autokontor Bayern als Lager für tausende Fahrzeuge.

 ?? Foto: Roland Holschneid­er, dpa ?? Die größte Anti-Atomwaffen-Demo in der Geschichte der deutschen Friedensbe­wegung: Zwischen 300000 und 400000 Menschen bildeten 1983 eine mehr als 100 Kilometer lange Menschenke­tte von Neu-Ulm nach Stuttgart.
Foto: Roland Holschneid­er, dpa Die größte Anti-Atomwaffen-Demo in der Geschichte der deutschen Friedensbe­wegung: Zwischen 300000 und 400000 Menschen bildeten 1983 eine mehr als 100 Kilometer lange Menschenke­tte von Neu-Ulm nach Stuttgart.
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