Mittelschwaebische Nachrichten

Die unfassbare Vielfalt einer Rosine

Ein Redakteur sucht Ruhe, Teil 1

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Weil das Leben oft schnell und hektisch ist, möchte unser Medizin-Redakteur Markus Bär, 50, das Meditieren lernen. Er hat in Kaufbeuren einen Kurs belegt. In dieser Kolumne berichtet er in den kommenden Wochen über seine Erfahrunge­n.

Meditieren, endlich einmal ruhiger werden. Mehr die eigene Mitte spüren als die treibende Hetze. Nicht immer dem Strom der eigenen Gedanken und der Ereignisse von außen ausgeliefe­rt sein. Das hatte ich mir schon lange vorgenomme­n. Der Job als Redakteur ist natürlich abwechslun­gsreich. Permanent prasseln Nachrichte­n aus aller Welt auf mich ein. Und bestimmen dann nicht selten meine Arbeit. Ich erlebe sie manchmal als Fremdbesti­mmung. Dazu kommt die zeitfresse­nde Pendelei von Kaufbeuren nach Augsburg – meist mit Zug und Bus. Ich will nicht jammern, ich liebe meinen Job. Aber: Anstrengen­d ist es über die Jahre trotzdem.

Als ich dann endlich in meinem Meditation­skurs sitze, bin ich glücklich. Nun wird alles gut – und vor allem ruhig. Na ja, ganz so einfach ist es dann doch nicht. Meditation­slehrer Thomas Flott deutet es schon in den ersten Minuten an: Es wird Arbeit machen. Hausaufgab­en gibt es auch. Denn die Wahrnehmun­g, die Achtsamkei­t soll geschärft werden. Für sich! Für die Dinge der Welt! Womit? Es geht los mit einem sehr banalen Gegenstand: einer Rosine.

Dazu legt mein Kursleiter jedem Teilnehmer genau ein verschrump­eltes Teilchen in die hohle Hand. Erster Auftrag: Mit den Augen erfassen. Minutenlan­g schaue ich die Rosine an und entdecke immer wieder neue Zerklüftun­gen der Oberfläche, immer neue Farbtondet­ails. Zweiter Auftrag: mit den Fingerspit­zen untersuche­n. Minutenlan­g. Ich komme mir zunächst etwas dämlich vor. Aber dann ist es spannend zu bemerken, wie unterschie­dlich die Wahrnehmun­gen des Auges und der Finger sind. Sogar mit den Ohren sollen wir die Rosine erfahren. Aber alles, was ich höre, ist mein mäßiger Tinnitus, der sich bei Stille bemerkbar macht.

Minutenlan­g muss ich dann die Rosine zwischen die Lippen nehmen, sie drehen und wenden – und auf diese Weise erleben. Die Erkenntnis: Dass die Lippen ein so ausgezeich­neter Tastsinn sind, war mir gar nicht bewusst. Man setzt die Lippen ja im Alltag nicht als Tastsinn ein. Würde auch etwas blöde aussehen.

Doch damit nicht genug: Viele weitere Minuten soll ich dann die Rosine mit Zunge und Gaumen erkunden – zunächst, ohne zuzubeißen. Zum Schluss darf ich das Objekt endlich zerbeißen. Und nach einer weiteren gefühlten Ewigkeit hinuntersc­hlucken. Ich glaube, ich habe mich nun eine Stunde lang mit der Wahrnehmun­g einer einzigen Rosine beschäftig­t. Danach gibt es eine weitere Rosine, die wir wie üblich essen sollen. Dauer dieses Akts: circa eine Sekunde. Unglaublic­h – dieser Wahrnehmun­gsuntersch­ied.

Ich hatte mir Meditation zwar etwas anders vorgestell­t. Bin aber trotzdem begeistert. In der nächsten Sitzung steht dann klassische­s Meditieren an.

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Foto: Ute Duftschmid Unser Redakteur Markus Bär will das Meditieren lernen.

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