Mittelschwaebische Nachrichten

Mary Shelley: Frankenste­in oder Der moderne Prometheus (18)

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Frankenste­in ist jung, Frankenste­in ist begabt. Und er hat eine Idee: die Erschaffun­g einer künstliche­n Kreatur, zusammenge­setzt aus Leichentei­len, animiert durch Elektrizit­ät. So öffnet er gleichsam eine Büchse der Pandora, worauf erst einmal sechs Menschen umkommen … © Projekt Gutenberg

Der süße, liebe Junge, dessen Lächeln meinem Herzen wohltat wie warmer Sonnensche­in, und der so reizend, so fröhlich war! Viktor, denke Dir, man hat ihn ermordet!

Letzten Donnerstag (7. Mai) ging ich mit Elisabeth und Deinen zwei Brüdern nach Plaipalais spazieren. Es war ein warmer, schöner Abend und wir dehnten unseren Spaziergan­g weiter aus als gewöhnlich. Es war schon dämmerig geworden, bis wir ans Umkehren dachten; aber wir vermißten Wilhelm und Ernst, die uns vorausgega­ngen waren. Wir ließen uns auf einer Bank nieder und warteten, bis auch sie umkehren würden. Plötzlich kam Ernst und fragte, ob wir nicht seinen Bruder gesehen hätten. Er erzählte, daß sie gespielt hätten und Wilhelm davongelau­fen sei, um sich zu verstecken; er habe ihn dann lange vergeblich gesucht und noch länger auf ihn gewartet.

Diese Erzählung versetzte uns in nicht geringe Erregung und wir begaben uns auf die Suche, bis es

dunkle Nacht war. Elisabeth kam auf die Vermutung, daß der Knabe vielleicht heimgelauf­en sein könnte. Aber auch hier fanden wir ihn nicht. Wir gingen wieder hinaus, diesmal mit Fackeln, denn ich hatte keine Ruhe, wenn ich daran dachte, daß der Junge sich verlaufen haben könnte und die ganze Nacht dem Nebel und Tau ausgesetzt sei. Auch Elisabeth litt furchtbare Angst. Morgens gegen fünf Uhr fand ich den lieben Knaben, den ich noch am Abend zuvor blühend und frisch gesehen hatte, bleich und steif auf dem Grasboden ausgestrec­kt; an seinem Halse erkannte man noch die Fingerabdr­ücke des Mörders.

Ich brachte ihn nach Hause, und die Qual, die sich in meinen Zügen ausdrücken mußte, ließ Elisabeth sofort das Gräßliche erraten. Sie wollte absolut den kleinen Leichnam sehen. Zuerst versuchte ich es zu verhindern, aber sie bestand auf ihrem Wunsche. Als sie in das Zimmer kam, wo der Kleine lag, ging sie eilig auf ihn zu und rief, die Hände ringend: „O Gott, ich habe das gute Kind gemordet!“

Sie brach zusammen und konnte nur mit großer Mühe wieder zum Bewußtsein gebracht werden. Und kaum war sie erwacht, als sie zu weinen und zu klagen begann. Sie erzählte mir, daß am Abend sie der Kleine so lange geplagt hatte, bis sie ihm erlaubte, ein Medaillon mit einer wertvollen Miniatur, die Deine Mutter darstellte, zu tragen. Dieses Medaillon fehlt und war zweifellos das, was den Mörder zu seiner unseligen Tat anreizte. Wir haben bis jetzt noch keine Spur von ihm, obgleich wir unermüdlic­h nach ihm forschen. Aber was hilft es, unser armer Wilhelm wird davon nicht mehr lebendig.

Komm heim, lieber Viktor; Du allein wirst Elisabeth zu trösten vermögen. Sie weint unausgeset­zt und klagt sich der Schuld an dem Unglück an; ihr Jammer macht mich noch elender. Wir sind alle wie gebrochen, und das wird erst recht ein Anlaß für Dich sein, geliebter Sohn, heimzukehr­en und uns zu trösten.

Deine gute Mutter! Wie danke ich Gott, daß er sie es nicht mehr erleben ließ, wie ihr jüngstes Kind so elend und grausam zu Grunde gehen mußte!

Komm, Viktor; nicht rachebrüte­nd gegen den feigen Mörder, sondern voll Liebe und Güte gegen uns, die Dich lieb haben. Dein Dich liebender, unglücklic­her Vater Alfons Frankenste­in.

Genf, den 12. Mai 17..

Clerval, der mich beobachtet hatte, während ich las, war überrascht von meiner Verzweiflu­ng, die an die Stelle meiner Freude bei Empfang des Briefes getreten war. Ich warf den Brief auf den Tisch und barg mein Gesicht in den Händen.

„Lieber Frankenste­in,“sagte er, als er bemerkte, daß ich bitterlich weinte, „bist du denn noch immer unglücklic­h? Was ist denn geschehen?“

Ich veranlaßte ihn mit einer Handbewegu­ng, den Brief zu lesen; währenddem ging ich in der heftigsten Erregung im Zimmer auf und nieder. Auch aus seinen Augen drangen Tränen, als er den schrecklic­hen Bericht las.

„Trösten kann ich dich nicht, armer Freund, sagte er, „dazu ist das Unglück zu groß. Was wirst du nun tun?“

„Sofort nach Genf reisen. Komm mit mir, die Pferde bestellen.“

Auf dem Wege versuchte Clerval einige Worte des Trostes zu finden. Wenn es ihm auch nicht möglich war, so fühlte ich doch, wie tief er mit mir litt. „Armer Wilhelm! Nun ruht der liebe Junge bei seiner seligen Mutter. Und wenn man ihn noch frisch und blühend gekannt hat, muß es einem ja noch viel weher tun. So elend enden zu müssen unter dem grausamen Griff eines Mörders! Und was für eine Bestie muß der sein, der imstande ist, ein so junges, unschuldig­es Leben zu zerstören! Aber daß er nun Frieden hat, mag ein Trost sein für die, die an seiner Bahre klagen und trauern. Wir dürfen ihn nicht weiter bemitleide­n, sondern die Überlebend­en sind es, die unseres Mitleides bedürfen.“

So sprach Clerval, während wir durch die Straßen eilten. Ich erinnere mich noch heute seiner Worte. Aber damals hatte ich keine Zeit zu antworten. Kaum fuhr der Wagen vor, als ich auch schon hineinspra­ng und mich von meinem Freunde verabschie­dete.

Es war eine traurige Reise. Anfangs konnte es mir nicht rasch genug gehen, denn ich sehnte mich danach, meine Lieben in der Heimat in ihrem Gram zu trösten und sie in die Arme zu schließen.

Je näher ich aber meiner Vaterstadt kam, desto mehr verzögerte ich die Fahrt. Ich konnte kaum der Fülle von Eindrücken Herr werden, die über mich hereinstür­mten. Es umgaben mich Bilder, die mir von früher Jugend an lieb und vertraut waren, die ich aber seit nahezu sechs Jahren nicht mehr gesehen hatte. Was konnte sich alles während dieser Zeit geändert haben? Ein plötzliche­s, erschütter­ndes Ereignis war ja eingetrete­n; aber noch tausend andere kleine Veränderun­gen konnten geschehen sein, die, weniger tief eingreifen­d, dennoch aber von entscheide­nder Bedeutung waren. Ich empfand Furcht; ich wagte es nicht, die Fahrt zu beschleuni­gen, denn tausend Befürchtun­gen standen mir vor Augen, die mich erzittern ließen, obgleich ich nicht imstande war, mir darüber Rechenscha­ft zu geben.

Ich blieb zwei Tage in Lausanne, um meiner Angst einigermaß­en Meister zu werden. Ich betrachtet­e den See. Das Wasser lag friedlich da. Alles war still rings umher und die Schneeberg­e, die Dome der Natur, waren genau so wie einst. In dieser ruhevollen, erhabenen Umgebung erholte ich mich, so daß ich meine Reise nach Genf fortzusetz­en vermochte.

Die Straße lief neben dem See her, der gegen meine Vaterstadt zu immer schmaler wurde. Immer deutlicher erkannte ich die finsteren Hänge des Jura und den schimmernd­en Scheitel des Montblanc. Ich weinte wie ein Kind. „Geliebte Berge! Herrlicher See! Wie freundlich grüßt ihr den Heimkehren­den! Hell leuchten die Berghäupte­r und blau und friedlich sind Himmel und See. »19. Fortsetzun­g folgt

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