Mittelschwaebische Nachrichten

Vom CDU-Schreck zum Publikumsl­iebling

Bremens Altbürgerm­eister Henning Scherf ist einer der ungewöhnli­chsten Sozialdemo­kraten. Mit 80 geht er als Experte für aktives Altern auf Tournee

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Lesezirkel in einem Bremer Altenheim: Altbürgerm­eister Henning Scherf trägt ein Rilke-Gedicht vor. Als eine weitere Heimbewohn­erin das „Café Remberti“betritt, eilt der fast 80-jährige Sozialdemo­krat auf sie zu und bugsiert sie mit ihrem Rollator zu einem freien Stuhl – ohne zu fragen, ob sie überhaupt Hilfe braucht.

Jeden Montag leitet der ZweiMeter-Mann diesen Lesezirkel. An anderen Abenden tourt er durch die Republik und hält Vorträge über „Aktives Altern“. Denn seit seinem Ausstieg aus der Politik 2005 hat er ein gutes Dutzend Bücher geschriebe­n oder daran mitgewirkt, etwa „Grau ist bunt“oder „Gemeinsam statt einsam“. Sein zentrales Anliegen: Jung und Alt sollen „sich neu aufeinande­r einlassen“. Wer noch nicht ausgebrann­t sei, könne bis ins hohe Alter weiterarbe­iten, etwa als Berater der Jüngeren. Oder sich ehrenamtli­ch engagieren. Und er macht Mut zum gemeinsame­n, selbstbest­immten Wohnen.

Scherf selbst lebt mit seiner Ehefrau Luise und sechs Freunden seit 30 Jahren in einem behinderte­ngerechten Altbau, in separaten Wohnungen, aber doch mit ausgeprägt­em Gemeinscha­ftsleben. Das Besondere daran ist das Verspreche­n, sich im Alter wechselsei­tig zu pflegen. Dreimal schon hat die Hausgemein­schaft Bewohner beim Sterben begleitet. Im Ruhestand wirkt der dreifache Vater und neunfache Opa fast rastloser als früher in seinen 34 Jahren als Berufspoli­tiker. Bei seinen Lesereisen hat er in manchem Jahr mehr als 200 Vorträge gehalten. Das Honorar spendet er der Nicaragua-Hilfsorgan­isation „Pan y Arte“, deren Ehrenvorsi­tzender er ist. Nur allmählich tritt er etwas kürzer. Das Pensum seiner Auftritte schrumpft „in Richtung Hundert“, wie er sagt. Was treibt ihn an? „Ich bin süchtig nach Anerkennun­g“, sagt er. „Ich brauche Menschen.“Als junger Politiker war Scherf, Sohn einer nazi-verfolgten Drogistenf­amilie, ein bekennende­r Linker. Er half den Revolution­ären in Nicaragua beim Kaffeepflü­cken, machte mit bei der Blockade des US-Atomrakete­nlagers in Mutlangen. Für die CDU war er ein rotes Tuch. Dennoch übernahm er 1995 die Führung einer Großen Koalition. Dabei wandelte er sich vom CDU-Schreck und Polarisier­er zum Versöhner und Publikumsl­iebling. Der Volljurist war der unkonventi­onellste Regierungs­chef aller Bundesländ­er. Statt Dienstwage­n nahm er lieber sein Hollandrad. Ohne Leibwächte­r schlendert­e er durch die Stadt und umarmte Marktfraue­n. Ein richtiger Landesvate­r eben. Viele mögen diesen charmanten Menschenfi­scher. Aber oft ist er auch distanzlos. Und im politische­n Streit konnte er ungerecht und aufbrausen­d werden. Am Mittwoch wird der gläubige Protestant 80. Wenn es nach ihm geht, möchte er noch 100 werden. Vielleicht schafft er das ja, wenn er weiterhin lieber heißes Wasser statt Alkohol trinkt und sogar auf den Geburtstag­ssekt verzichtet.

Eckhard Stengel

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Foto: imago

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