Mittelschwaebische Nachrichten
Der Zwitter von Zwittau
Der Roman „Mittelreich“des Schauspielers Josef Bierbichler beherbergt vielerlei und bizarre Gestalten. Eine davon stand im Zentrum der Autorenlesung im Stadtsaal
Gekommen war er nach Mittelschwaben. Im Gepäck hatte er seinen Roman „Mittelreich“. Auf Einladung des Kult-Vereins las der bekannte Schauspieler Josef Bierbichler (Der Brandner Kaspar) im Rahmen des Literaturherbstes im Krumbacher Stadtsaal.
Aus der drei Generationen im 20. Jahrhundert umfassenden Familiensaga „Mittelreich“hatte der 70-Jährige eine Episode etwa mitten aus dem rund 400 Seiten umfassenden Werk gewählt. Eine, die er vielleicht mal extra verfilmen möchte – eine, die nicht direkt etwas mit den Hauptpersonen des Werks zu tun hat, wie er dem knapp 100 Zuhörer umfassenden Publikum versicherte: Die Geschichte des preußischen Fräuleins von Zwittau.
Dieses Fräulein könnte böse als alte Jungfer bezeichnet werden, doch das ist nur eine Hülle in die Bierbichler erzählerisch tief hineinblickt. Das Fräulein wurde nach dem Zweiten Weltkrieg in dem stark angeschwollenen Flüchtlingsstrom ins Nachbarhaus des Seewirts in das Dorf am See in Oberbayern gespült, wo die eigentliche Geschichte des Romans spielt. Aufgewachsen ist die Charlotte von
Zwittau auf einem
Gut in Ostpreußen. Nach dem Tod des Vaters lebt das Fräulein mit seiner Mutter im Mittelbau des Anwesens. Das Leben plätschert mehr oder weniger dahin mit Lesen und Handarbeiten, das Fräulein badet in Melancholie, seit sein Bräutigam, der Baron von Kleist, noch vor der Hochzeitsnacht auf und davon schied – offiziell gefallen an der Front zu Beginn des Ersten Weltkriegs. Die Mutter verbringt seit dem Tod des Ehemanns vor Jahresfrist die Tage alleine, bis auf die Einnahme der Mahlzeiten, so auch das Fräulein.
Mit gleichförmiger Stimme liest Bierbichler, sodass das Publikum die Ungeheuerlichkeiten, die Spannungen, die großen Gefühle des Textes unvorbereitet ohne Vorwarnung treffen. Etwa als die Mutter scheinbar harten Herzens dem Fräulein eröffnet, dass es adoptiert worden war, weil der Familie kein Mädchen geboren worden war. Dass das Fräulein all dies verkraften muss und dazu noch den (Frei-)Tod der Mutter am nächsten Morgen, purzelte den Zuhörern wie scheinbare Belanglosigkeiten in rasantem Tempo der Ereignisse um die Ohren – nicht nur einmal musste man schlucken vor Betroffenheit im Stakkato der Handlung. Und gleichzeitig hieß es hoch konzentriert zu bleiben, um nichts inhaltlich und keinen Zwischenton zu verpassen. Mucksmäuschenstill war es im Saal.
Das Fräulein bringt die Beerdigung hinter sich. Die Eröffnungen der Mutter bleiben Charlottes Geheimnis. In Übereinkunft mit den Brüdern schafft sie die Verwaltung des Guts alleine und diese Aufgabe füllt sie aus und erschöpft sie derart, dass keine Gelegenheit bleibt, an ihrem Leben zu zerbrechen. Da geschieht die nächste Ungeheuerlichkeit: Des Nachts bei klirrenden Minusgraden rücken russische Soldaten an und begehren Einlass. Der Knecht, der mit ins Gutshaus gezogen war nach dem Tod der Mutter, öffnet die Tür. Es entspinnt sich eine ins schier Endlose gedehnte detailreiche Szene, die in die Vergewaltigung des schon über 50-jährigen Fräuleins zu münden scheint. Als die Soldaten aber vordringen wollen zur inzwischen freigelegten Scham der Jungfer, kommt es nicht dazu. Die Soldaten müssen erkennen, dass sie eine „Zipfelpritsche“, einen Zwitter, einen Hermaphroditen vor sich haben, fürchten sich und lassen von ihrer Schandtat ab. Niemand hatte so etwas je gesehen. Das Fräulein muss am nächsten Morgen gehen. Es ist sich seiner Andersartigkeit nie bewusst gewesen und findet Papiere der Mutter. Und wieder prasseln die Unglaublichkeiten auf das Publikum ein: Dass die Adoption eigentlich eine missglückte gewesen sei, da das Fräulein ja eigentlich kein Mädchen mit dem uneindeutigen Geschlecht gewesen sei. Dass die Adoption nicht mehr habe rückgängig gemacht werden können und dass man dann Stillschweigen darüber gebreitet hatte und das Fräulein behördlich nicht eintragen hatte lassen. Dass es eine unglaubliche Peinlichkeit gewesen war, als der Bräutigam des Fräuleins die Mutter wegen des zweifelhaften Geschlechts des Fräuleins zur Rede gestellt hatte und man sich hatte die fingierte Geschichte des Fallens an der Front zur Wahrung des Gesichts einfallen lassen müssen. So entlässt Bierbichler seine Zuhörer in die Pause.
Die Fortführung im zweiten Teil der Lesung spielt dann in Bayern in dem Dorf am See, wo das Fräulein anerkannt ist als vornehme Person, gut für die Bildung und Betreuung der Kinder des Seewirts und für das Hochhalten eines Stücks von Kultur am Ort. Doch nach dem Auszug der Kinder und dem Entfallen der Aufgabe überschlagen sich die Ereignisse und spitzen sich auf den Tod des Fräuleins im See zu. Vorher wollte es noch Gewissheit über seine Andersartigkeit, greift sich ein Kind, um dem zwischen die Beine zu schauen und das Gesehene mit sich selber an dieser Stelle zu vergleichen. Es folgen polizeiliche Untersuchungen und damit das Öffentlichwerden der ungewöhnlichen Sachlage. Auch im Dorf wird plötzlich diskutiert über Ungesagtes, Ungedachtes ja Unvorstellbares. Die tumbe Meinung „Das sind einfach ganz andere Menschen, diese Flüchtlinge“, macht sich breit. Im Publikum gibt es kurze Lacher, geschuldet der heutigen Situation Deutschlands mit Flüchtlingen, gleichwohl der Roman bereits 2011 erschienen ist. Bitteres Lachen breitet sich dann aus, als der Seewirt im Buch sagt: „Juden und Sozis gibt es auch, warum soll es so was nicht auch geben?“
Er nickt kurz ins Publikum
Ja, was es nicht alles gibt in der Welt, und sei sie noch so klein und dörflich wie in Bierbichlers autobiografischem Roman. Da ruft der Seewirt dann am Schluss der Lesung seinen Freund Doktor Pachie junior an, um anzukündigen: „Ich hab mich entschieden, ich lass mich operieren. Sag mir Bescheid, wenn Du vom Krankenhaus einen Termin bekommen hast. Ich nehm mir Zeit, wann immer es ist.“Ein abruptes Ende. Bierbichler sieht auf, nickt kurz ins sprachlose Publikum und tritt ab von der mittelschwäbischen Bühne.
Natürlich signiert er anschließend noch gerne Mittelreich-Bücher, auch wenn er den Zuschauern gesagt hat: „Bringa tuat’s net vuij.“