Mittelschwaebische Nachrichten

Unser fragiles Paradies

- VON TILL HOFMANN

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Das wäre es: Der Wasserhahn in der Küche spuckt kein Wasser aus, sondern es fließt – je nach Auswahl – Wein oder Milch oder Honig aus ihm. Das, was sich wie die Endstufe eines „smart home“anhört, gibt es schon viel länger – in der Märchenlit­eratur; und nicht nur auf ein Haus ausgericht­et, sondern gleich auf ein Land ausgedehnt: auf das Schlaraffe­nland. Dort hocken und liegen sie also, die Faulenzer. Sie würden es nicht oder allenfalls zu spät mitbekomme­n, wenn sich ihre Daseinsbed­ingungen dramatisch ändern würden.

Bekommen wir es mit, wenn die Demokratie ausgenutzt, ausgehöhlt, attackiert wird? Ist sie uns so selbstvers­tändlich geworden wie eine Ware im Selbstbedi­enungslade­n zum Schleuderp­reis? Das darf man sich durchaus in Erinnerung rufen, wenn Zeitgenoss­en angesichts der Gedenktage im November geneigt sind, genervt abzuwinken und zu fragen, warum man den alten Käse wieder und wieder servieren muss.

Vor 100 Jahren endete der Erste Weltkrieg. Wie konnte man in eine solche Katastroph­e geraten? Waren das alles Hurra-Patrioten und nationalis­tische Dumpfbacke­n? Die Schicksale der Günzburger­in Lizzy Leimer, geboren 1886, und des fünf Jahre jüngeren Friedo Talg aus dem niedersäch­sischen Soltau belehren uns eines Besseren. Die freiheitsl­iebende Lizzy machte sich, volljährig geworden, nach Frankreich auf – und organisier­te in Paris das Leben einer reichen Familie, bevor sie vor Kriegsbegi­nn wieder zurück in die Heimat kam. Wie mutig das damals war, einfach die Zelte abzubreche­n!

Friedo, der Sohn eines Schneiderm­eisters, träumte von Tuchfabrik­en in England, die er sich anschauen und sich das Wissen aneignen wollte. Das Schicksal meinte es anders mit ihm. Er musste alles stehen und liegen lassen und wurde in Augsburg 1914 in acht Tagen darin ausgebilde­t, wie man am besten Feinde umbringt. Töten oder getötet werden: Diese Wahl machte Menschen zum bloßen Material, das von Generalen auf den Schlachtpl­änen hinund hergeschob­en wurde.

Die Augenblick­e des Glücks und der Liebe von Lizzy Leimer und Friedo Talg, die sich zufällig kennengele­rnt hatten, wogen die Grausamkei­ten des Krieges nicht auf. Dass wir davon erfahren dürfen, ist Caro Clement zu verdanken, die Talgs Briefe von der Front mit einem Buch unsterblic­h gemacht hat. Am Donnerstag las sie daraus in Günzburg vor.

Welche Lehre ziehen wir daraus? Dass wir auf der Hut sein und für unsere Art des Zusammenle­bens eintreten müssen. Denn auch die Menschen vor 100 Jahren hatten Werte, Wünsche, Träume von einer besseren Zeit. Sie waren im Grunde nicht anders als wir, was den Umkehrschl­uss zulässt, dass wir auch nicht anders sind als sie – und nicht gefeit davor, Rattenfäng­ern mit ihren einfachen Parolen auf den Leim zu gehen. Ein Blick in die unruhige Welt 2018 mit ihren Krisenherd­en genügt, um die Fragilität von Freiheit und Frieden zu erkennen. Wenn Erkenntnis der erste Schritt ist, sich selbst zu engagieren – beispielsw­eise in Bürgerinit­iativen, für den Naturschut­z oder in Partnersch­aftskomite­es – und Diskussion­en nicht beredten Meinungsma­chern zu überlassen, dann sollte Folgendes bewusst werden: Die Demokratie ist ein Paradies, aus dem wir jederzeit vertrieben werden können.

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