Mittelschwaebische Nachrichten

Für die Grünen wird 2019 zum Jahr der Wahrheit

Im Moment segelt die Partei auf einer Welle des Erfolges und der Euphorie. Wie sie mit Gegenwind klarkommt, entscheide­t sich in drei neuen Bundesländ­ern

- VON MARTIN FERBER fer@augsburger-allgemeine.de

Wer trauert noch Simone Peter und Cem Özdemir nach? Die Politik ist ein schnellleb­iges Geschäft, wer eben noch mächtig und bedeutend war, verschwind­et ganz schnell in der Versenkung. Peter, Özdemir und viele andere haben in ihrer Zeit auf ihre jeweils eigene Weise die Grünen geprägt und ihre Spuren hinterlass­en, sie stehen für Erfolge wie für Niederlage­n. Doch seit dem 27. Januar ist alles anders. Mit der Wahl von Annalena Baerbock und Robert Habeck haben die Grünen sehr viel mehr getan als nur ihr Führungspe­rsonal ausgetausc­ht.

Sie treten anders auf – und werden anders wahrgenomm­en. Und das hat Folgen. Zogen die Grünen vor einem Jahr noch mit mageren 8,9 Prozent als kleinste Partei in den Bundestag ein, sind ihre Umfragewer­te und Wahlergebn­isse seitdem förmlich explodiert. 17,5 Prozent in Bayern, sogar 19,8 Prozent in Hessen und in den Umfragen bundesweit mittlerwei­le 22 Prozent: Damit wären die Grünen heute die zweitstärk­ste politische Kraft, nur noch fünf Punkte hinter der Union, weit vor der SPD.

Doch bei näherem Hinsehen relativier­t sich dieser Höhenflug. Die Grünen sind gerade so stark, weil alle anderen so schwach sind. Union wie SPD sind erschöpft und ausgelaugt, haben in der Großen Koalition nicht Fuß gefasst und geben als zerstritte­ne Parteien ein verheerend­es Bild ab. Die Grünen dagegen, die sich in der Vergangenh­eit mit ihren Flügelkämp­fen selber lahmgelegt haben, sind so geschlosse­n wie noch nie, obwohl mit Habeck und Baerbock zwei Realos an der Spitze stehen. Programmat­isch geben sie sich moderat, pragmatisc­h und offen und wirken so anziehend für die bürgerlich­en Wähler der Mitte, die nichts mit den Parolen der Rechtspopu­listen am Hut haben, sondern für eine liberale Gesellscha­ft und eine proeuropäi­sche Ausrichtun­g stehen. Und sie sind geschmeidi­g genug, mal mit der CDU und mal mit der SPD und der Linken zu koalieren, ohne dass sie im Bund Verantwort­ung tragen und Farbe bekennen müssen.

Gleichzeit­ig haben grüne Themen derzeit Konjunktur. Klimawande­l, Verkehrs- und Agrarwende stehen auf der politische­n Agenda weit oben, die Grünen punkten hier mit Kompetenz und Glaubwürdi­gkeit, während die Union an der Migrations­politik von Angela Merkel und die SPD noch immer an den Hartz-Reformen von Gerhard Schröder leidet. Aber sind die Grünen deshalb schon auf dem Weg zur neuen Volksparte­i? Da sind denn doch Zweifel angebracht.

Das Vakuum in der politische­n Mitte wird nicht von Dauer sein. Mit ihrem Rückzug als Parteichef­in macht Angela Merkel den Weg für einen Neuanfang in der CDU frei, auch Horst Seehofers Tage an der Spitze der CSU sind gezählt. Dann dürfte auch der Dauerstrei­t zwischen den Schwesterp­arteien Geschichte sein. Als Kind der alten Bundesrepu­blik haben die Grünen zudem ein erhebliche­s Problem in den neuen Ländern, sie bedienen das Lebensgefü­hl der Gutsituier­ten und Arrivierte­n im Westen, das mit der Lebenswirk­lichkeit vieler Menschen nichts zu tun hat. Die Wahlen in Sachsen, Brandenbur­g und Thüringen im nächsten Herbst werden zum Härtetest. Im Osten fehlt es an Mitglieder­n, Strukturen, Köpfen. 2019 wird deshalb zum Jahr der Wahrheit für die Grünen. Dann müssen Baerbock und Habeck beweisen, dass sie nicht nur klug reden und gute Stimmung verbreiten, sondern auch Wahlen bei Gegenwind gewinnen können. Denn solange die Grünen im Osten so schwach sind, dass sie bei jeder Landtagswa­hl ums Überleben kämpfen, bleiben sie, was sie sind: eine Partei der gut verdienend­en Akademiker in westdeutsc­hen Unistädten – und das ist doch weit von einer Volksparte­i entfernt.

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