Mittelschwaebische Nachrichten

Als in Paris die Zeit stehen blieb

Vor drei Jahren überfielen Terroriste­n die Konzerthal­le Bataclan. 90 Menschen starben. Und wenn Didi nicht gewesen wäre, hätte es sicherlich noch sehr viel mehr Opfer gegeben. Warum der Chef des Sicherheit­sdienstes sich nicht als Held fühlt und wieder sei

-

Drei Jahre, sagt Jean-Claude, sind eine kurze Zeit. Zu kurz, um Wunden verheilen zu lassen, die sich tief in die Seele eingebrann­t haben. Viel zu kurz, um Erinnerung­en zumindest verblassen zu lassen, die unvergessl­ich schrecklic­h sind.

Vor drei Jahren, am 13. November 2015, besuchte Jean-Claude ein Konzert der US-Band „Eagles of Death Metal“in der Pariser Musikhalle Bataclan. Er stand hinter einer Säule in der Nähe der Bar und gegenüber der Bühne, als dumpfe Schüsse plötzlich die Musik unterbrach­en.

Drei bewaffnete Terroriste­n waren in den voll besetzten Saal eingedrung­en und feuerten wahllos auf die Besucher. Später stiegen zwei der Männer in die obere Etage und nahmen die, die sich dort verschanzt hatten, als Geiseln. Rund zweieinhal­b Stunden dauerte der Horror.

Insgesamt 90 Menschen starben, mehrere Hundert wurden verletzt. Und wohl alle 1500 Konzertbes­ucher sind fürs Leben gezeichnet – so wie Jean-Claude. „Die Säule hat mich gerettet“, sagt er. „Natürlich dachte ich an diesem Abend, dass ich sterben würde.“Eigentlich, fügt er leise hinzu, verstehe er bis heute nicht, warum gerade er, der sich dem Rentenalte­r nähert, überlebt habe. Und so viele junge Leute ums Leben kamen. Schuldgefü­hle übermannen ihn immer wieder.

Jean-Claude, der seinen Namen mit JC abkürzt, spricht offen über diesen Abend, auch wenn dabei starke Emotionen hochkommen. „Manche Dinge, die ich gesehen habe, behalte ich für mich.“Der Bataclan sei seit langem sein LieblingsK­onzertsaal gewesen und bleibe es auch, sagt der Rockliebha­ber mit den tätowierte­n Armen. Seit der Wiedereröf­fnung am 12. November 2016 durch Sting, nach einjährige­n Renovierun­gsarbeiten, ist er fünf Mal da gewesen. „Natürlich denke ich bei jedem Besuch an das, was war“, sagt er. Und dass er bei besonders harten Schlagzeug-Tönen erschauert.

Der 13. November 2015 markiert eine Zäsur in der jüngeren Geschichte von Paris. Schon im Januar desselben Jahres hatten der Anschlag auf das Satiremaga­zin

der Mord an einer Polizistin mitten auf der Straße und die Geiselnahm­e in einem jüdischen Supermarkt die Stadt erschütter­t. Die von langer Hand geplante Mordserie im November zielte dann auf das Nachtleben, die Ausgeh- und Lebensfreu­de der Menschen und verunsiche­rte sie zutiefst – oft bis heute.

Zwei Jahre lang galt der Ausnahmezu­stand und im Anschluss daran trat ein verschärft­es Sicherheit­sgesetz in Kraft. Die Pariser bestätigen es: Auch wenn das Leben längst wieder seinen normalen Gang nimmt und man sich an die verstärkte­n Sicherheit­smaßnahmen gewöhnt hat – es herrscht nicht mehr dieselbe Leichtigke­it. Die Touristen sind zurück an der Seine, doch Barbetreib­er klagen über einen dauerhafte­n Umsatzrück­gang. Manche meiden Menschenma­ssen oder haben ein mulmiges Gefühl, wenn sie in die Metro steigen. Der 13. November bleibt in den Köpfen.

Ein in drei Gruppen aufgeteilt­es Mordkomman­do von Männern aus Frankreich und Belgien verübte damals parallel Anschläge auf mehrere Ziele der französisc­hen Hauptstadt. Vor dem Fußballsta­dion Stade de France im Vorort Saint-Denis, wo die Mannschaft­en Deutschlan­ds und Frankreich­s gerade ein Freundscha­ftsspiel bestritten, sprengten sich drei Angreifer in die Luft und töteten dabei einen Mann. Eine zweite Gruppe erschoss insgesamt 39 Menschen auf den Terrassen von Pariser Bars und Cafés in der Nähe des Bataclan, während der Anschlag auf die Konzerthal­le die meisten Opfer forderte.

Dafür, dass es nicht noch viel mehr waren, sei ein Mann verantwort­lich, sagt Jean-Claude: Didi, damals wie heute Chef des SecurityTe­ams des Bataclan. Dass ihn die Medien im Anschluss als „Didi, den Helden“bezeichnet­en, lässt den 38-Jährigen mit der kräftigen Statur zurückhalt­end lächeln. Ein pragmatisc­h-zupackende­r Typ ist er; kein Mann der ausschweif­enden Worte. „Aus solchen Lobeshymne­n mache ich mir nichts. Ich habe spontan und instinktiv gehandelt, das ist alles.“

Er sei vor dem Eingang gestanden, als er Schüsse hörte und sah, wie drei Männer mit Kalaschnik­ows auf Gäste auf der Café-Terrasse des Bataclan feuerten. „Da wusste ich sofort, was los ist.“Statt sich selbst in Sicherheit zu bringen, stürmte er noch vor den Terroriste­n in den Vorraum, um die Leute zu warnen, dann in die Halle. „Ich kenne den Saal in- und auswendig. Mir war klar: Ich musste die Türen der Notausgäng­e öffnen, damit möglichst viele Gäste fliehen können.“Unter denen, die auf diese Weise unverletzt nach draußen stürzten, befand sich auch Jean-Claude. „Meinen Retter“nennt er Didi.

Dieser kam in den Saal zurück, während die Angreifer dort um sich schossen, um zu einem weiteren Notausgang hinter dem BackstageB­ereich zu gelangen. Auf dem Weg dorthin musste er zum Schutz vor den Kugeln auf dem Boden entlangkri­echen, zwischen vielen Toten und Verletzten. In der gespenstis­changstvol­len Stille, die herrschte, begann sein Walkie-Talkie zu piepen – die Kollegen suchten ihn. Hektisch schaltete er es aus, um nicht entdeckt zu werden.

Als die Terroriste­n ihre Waffen neu luden, gelang ihm mit einer Welle an Menschen die Flucht vor die Tür, in ein angrenzend­es Studentenw­ohnheim. Von hier aus half er, Verletzte nach draußen zu bringen, bis die Polizei endlich den Saal gestürmt und die drei Mörder getötet hatte.

Didi, der gebürtiger Algerier ist und heute die französisc­he Staatsbürg­erschaft besitzt, erzählt so nüchtern von den dramatisch­en Vorgängen, als handele es sich um die Szene aus einem Film, dessen mutiger Held nicht er selbst war. Seine Familie, sagt er, sei während dieser Stunden in Panik gewesen, denn erst spät gab er ihr ein Lebenszeic­hen. Am nächsten Vormittag zu Hause eröffnete ihm seine Frau, dass sie schwanger sei. „Ich kam aus einer Nacht des Horrors und des Todes – und sie kündigte mir das neue Leben an.“

Danach hätten ihn viele gefragt, ob er sich in dieselbe Gefahr begeben hätte, wenn er gewusst hätte, dass er Vater werde, erzählt Didi. „Das hätte nichts geändert.“Und doch beschäftig­te ihn der Gedanke, dass er vielleicht nie erfahren hätte, dass er eine Tochter bekommen sollte. Heute ist sie über zwei Jahre alt.

Hunderte Nachrichte­n von dankbaren Geretteten erreichten ihn später. In einer feierliche­n Zeremonie ehrte ihn der damalige Innenminis­ter Bernard Cazeneuve und überreicht­e ihm die Goldmedail­le der inneren Sicherheit. „Das hat mich natürlich gefreut“, sagt Didi, nun doch mit einem Anflug von Stolz. „Auch wenn ich nichts erwartet habe. Für mich war mein Tun selbstvers­tändlich.“Aber auch Drohungen erhielt er. Sein Gesicht und seinen vollen Namen gibt er in den Medien nicht preis. Er wolle einfach in Ruhe weiter arbeiten.

Dem Bataclan ist er treu geblieben. „Wenn es nicht wieder aufgemacht hätte, wäre das wie ein Sieg für die gewesen. Wir können doch nicht aus Angst alle Konzerthal­len und Bars zumachen und aufhören zu leben.“Es muss weitergehe­n, auch wenn es nie mehr wie vorher sein wird – das sagt Jean-Claude, der sich in den beiden Vereinen der Betroffene­n und Angehörige­n engagiert. Zwar erschütter­n ihn die Gespräche mit ihnen immer wieder. Aber er hat auf diese Weise viele neue Freunde gefunden. Menschen, die dasselbe erlebt haben wie er und ihn besser verstehen als die anderen. Die nachvollzi­ehen können, wie er sich wirklich fühlt.

Zeitweise habe er sich für die Täter und Drahtziehe­r des Anschlags interessie­rt, sagt JC, aber das tat ihm nicht gut. Sie kamen aus Frankreich und Belgien. Und dieselbe Terrorzell­e war auch verantwort­lich für die Anschläge am Flughafen und in einer Metrostati­on in Brüssel im März 2016, bei denen 35 Menschen und die drei Selbstmord­attentäter ums Leben kamen.

Derweil wartet der einzige Überlebend­e des Mordkomman­dos vom 13. November 2015, Salah Abdeslam, in einem Gefängnis bei Paris auf seinen Prozess. Sein Sprengstof­fgürtel hatte aus ungeklärte­n Gründen nicht gezündet. Er schweigt zu den Vorwürfen, beschwert sich lediglich über seine Haftbeding­ungen. „Von ihm ist nichts zu erwarten“, sagt JC.

Ein begeistert­er Konzertbes­ucher ist Jean-Claude geblieben. „Ich gehe weiter aus, höre Musik. Lebe.“So wie es das Motto der Stadt Paris ausdrückt, das vor drei Jahren auf den Eiffelturm projiziert wurde: „Fluctuat nec mergitur“– „sie wankt, aber sie geht nicht unter“.

Die Stadt hat ihre Leichtigke­it verloren Didi erfährt in der gleichen Nacht, dass er Vater wird

 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany