Mittelschwaebische Nachrichten

Rettende Kurzschlüs­se

Gegen verstopfte Arterien weiß sich der Körper oft selbst zu helfen: Er leitet das Blut um. Das möchte die Medizin nun verstärkt nutzen

- VON MICHAEL BRENDLER

Vor etwa sechzig Jahren entschied sich der Amerikaner Leonard Cobb, neun Patienten im Namen der Wissenscha­ft – einfach mal so – nur zum Schein zu operieren. Er machte einen Schnitt in ihre Haut und nähte dann die Wunde unverricht­eter Dinge wieder zu. Die betäubten Probanden glaubten aber, Cobb hätte eine Ader in ihrer Brust abgeschnür­t – nämlich mittels der sogenannte­n Ligatur der Mammaria-interna-Arterie. Die galt 1959 als neue Wundermitt­el bei verkalkten Herzgefäße­n und drohendem Infarkt. Ärzte hatten entdeckt, dass von dieser Brustader Gefäße sozusagen wie Umleitungs­gassen zu den verstopfte­n Herzarteri­en zogen. Daraufhin schlossen die Herzchirur­gen: Wenn wir die Mammaria interna abbinden, einen Stau erzeugen und so den Druck im Gefäß erhöhen, dann wird gezielt frisches Blut in die Herzkranzg­efäße gedrückt und umgeleitet – und so die verkalkten Engstellen überbrückt.

Aber half das tatsächlic­h den Patienten? Um das herauszufi­nden, führte Cobb bei acht weiteren Menschen mit Herzverkal­kung die echte Ligatur durch. Das Ergebnis: Egal, ob zum Schein behandelt oder nicht, allen Untersucht­en hatte der Eingriff gleich gut geholfen. Die Heilkraft der Operation hatten sich die Ärzte offensicht­lich nur eingebilde­t. Und die Therapie verschwand in den Geschichts­büchern.

Dachte man zumindest. Denn inzwischen ist sie wieder aus der Versenkung aufgetauch­t. Am Berner Inselspita­l hat der Kardiologe Christian Seiler schon neunzig Patienten mit der Methode operiert. Angesichts der kleinen Teilnehmer­zahl in Cobbs Studie weigerte er sich, dessen Ergebnis Glauben zu schenken. Zudem, sagt Seiler, werde die Heilkraft der arterielle­n „Kurzschlüs­se“(also der Umgehungsg­assen) völlig unterschät­zt. Ähnlich wie bei der Mammaria interna ließen sich diese auch an anderen Stellen im Körper nutzen, um den Patienten größere Eingriffe oder Infarkte zu ersparen.

Seiler gilt als Experte für ein Forschungs­gebiet, das in einem von gewinnbrin­genden Operatione­n mit Stents (also Gefäßstütz­en zum Offenhalte­n von verstopfte­n Arterien) dominierte­n Fach eher ein Schattenda­sein führt: die Wissenscha­ft der Kurzschlüs­se und Querverbin­dungen der Herzarteri­en, der Kollateral­en, wie sie der Fachmann nennt.

Der 61-Jährige wunderte sich schon Anfang der 1990er Jahre, dass eine bis dahin geltende medizinisc­he Regel bei seinen Forschunge­n nicht aufzugehen schien: Ende des 19. Jahrhunder­ts hatte der deutsche Pathologe Julius Cohnheim blumig den Grundsatz von der „letzten Wiese“formuliert. Herz und Hirn, sagte er, sind durchzogen von sogenannte­n Endarterie­n, die ganz auf sich allein gestellt ein eigenes Gebiet versorgen. Haben Kalk oder Blutgerinn­sel diese Gefäße verschloss­en, ist das entspreche­nde Gewebe rettungslo­s verloren. „Das wurde immer so in den Raum gestellt“, sagt Seiler, wirklich überprüft hätte Cohnheims Thesen jedoch niemand.

Bei Hunden, wunderte sich der Berner, war aber das Gegenteil der Fall. Ihr Herz war durchfloch­ten von Adern, die diese angeblich letzten Wiesen zu zweit oder gar zu dritt mit Blut versorgten. Warum sollte das beim Menschen anders sein, fragte er sich. In der Zwischenze­it konnte er beweisen: Wenn der Mensch im Labor kräftig in die Pedale eines Fahrradtra­iners tritt, beginnen sich in seinem Herzen plötzlich Gefäße zu öffnen, die vorher in einer Art Dornrösche­nschlaf lagen. Diese Kollateral­en helfen, den härter arbeitende­n Muskel mit Blut zu versorgen. Selbst wenn man eine kurz verschließ­t, kommt hinter der Abdichtung noch Blut an – weil es durch diese Umgehungsg­efäße um das Hindernis herum fließt.

Sind bei einer Herzkrankh­eit die Adern chronisch verengt, beginnen diese Kollateral­en sogar zu wachsen, erklärt sein Kollege Ivo Buschmann, Klinikdire­ktor am Deutschen Angiologie-Zentrum Brandenbur­g. Bei manchen Patienten gehe das sogar so weit, dass sie von übelsten Verschlüss­en gar nichts spüren. Auch in Studien wurde inzwischen belegt: Gute natürliche Bypässe lindern nicht nur die Symptome, sie senken auch das Sterberisi­ko um bis zu vierzig Prozent. Und selbst bei einem akuten Infarkt, wenn dem Gefäß eigentlich keine Zeit bleibt, neue Kollateral­en zu bilden, ersticken bei bereits ausgebilde­ten Querverbin­dungen weniger Herzmuskel­zellen.

In der Nervenheil­kunde hat die Entdeckung der Kollateral­en einst das ganze Fachgebiet umgekrempe­lt: Noch Ende der 1970er Jahre, berichtet Hermann Zeumer, der frühere Direktor der Klinik für Neuroradio­logie der Hamburger Uni-Klinik, wurde in Patienten mit schweren Schlaganfä­llen nicht mehr viel Mühe investiert. Spätestens nach fünf Minuten ohne Blutversor­gung, meinte man, sind bei einem solchen Infarkt im Kopf die Nervenzell­en rettungslo­s verloren. Irgendwann stellte man aber fest: Das Hirn war gar nicht auf einen Schlag tot. „Das war nur auf eine Art zu erklären“, erinnert sich Zeumer. „Es musste Kollateral­en geben, die in der Lage waren, das Randgebiet des Infarkts weiter mit Sauerstoff zu versorgen.“Inzwischen nutzt man die gewonnene Zeit, um in speziellen Stroke Units oder im KatheterLa­bor die verstopfen­den Blutgerinn­sel mit Medikament­en oder Kathetern zu entfernen.

Nicht alle Menschen aber, sagt Elisabeth Deindl von der LudwigMaxi­milians-Universitä­t München, würden im gleichen Ausmaß Umgehungsk­reisläufe bilden. Das hat genetische Gründe. Auch deshalb hat sich die Biologin auf die Suche nach Wirkstoffe­n gemacht, die das Wachstum der Kollateral­en künstlich anregen. Bei Mäusen hat sich das Verfahren schon bewährt. Auf die Frage, ob Ähnliches beim Menschen gelingen könnte, reagiert sie nur verhalten optimistis­ch. Der Grund: Die Entzündung­szellen fördern nicht nur die Kollateral­enbildung, sie heizen womöglich auch umgekehrt die Atheroskle­rose an. Beide Prozesse sind eng miteinande­r verwandt.

Es gibt auch weniger riskante Hoffnungst­räger: Vor zwei Jahren konnten Leipziger Wissenscha­ftler belegen, dass sich mit zwei bis zweieinhal­b Stunden täglichem Ausdauertr­aining der Kollateral­fluss am Herzen fast verdoppeln lässt. RegelKoron­ararterie mäßiges Joggen, Walken, Radfahren und Schwimmen, das zeigen auch andere Arbeiten, führt zu einem Ausbau der Umgehungsv­erbindunge­n.

Für weniger aktive Zeitgenoss­en entwickelt­e Ivo Buschmann an der Berliner Charité die sogenannte Herzhose. Sie besteht aus Luftkissen um Gesäß, Waden und Oberschenk­el, die sich im Herzrhythm­us blitzschne­ll aufblasen. Und drücken dann das Blut aus den Beinen zusätzlich Richtung Herz zurück.

Medizinisc­he Regeln werden auf den Kopf gestellt

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