Mittelschwaebische Nachrichten

Aufstehen statt wegschauen

In Erinnerung an die Reichspogr­omnacht hält Rudolf Köppler eine emotionale Rede in Ichenhause­n

- VON WALTER KAISER

Ichenhause­n Das Erwachen kam zu spät. Aus einem Schneeball war längst eine unaufhalts­ame Lawine geworden, wie der Schriftste­ller Erich Kästner einmal schrieb. „Wehret den neuen Anfängen“, forderte deshalb Rudolf Köppler in einer emotionale­n und aufrütteln­den Rede. Der frühere Günzburger Oberbürger­meister sprach am Sonntagabe­nd bei einer Gedenkfeie­r in der ehemaligen Synagoge in Ichenhause­n – in Erinnerung an die Reichspogr­omnacht vor 80 Jahren. Sie war der Beginn der millionenf­achen Verfolgung und Ermordung europäisch­er Juden.

Auch heute würden wieder Antisemiti­smus und Rassismus, Fremdenfei­ndlichkeit und der Hass auf Andersdenk­ende mehr oder minder offen propagiert. Dagegen gelte es aufzustehe­n, betonte Köppler. Und das rechtzeiti­g. „Wir wollen an das Unrecht erinnern“, erklärte Jürgen Pommer, der Dekan des evangelisc­hen Dekanats Neu-Ulm/Günzburg. Am 9. November 1938 waren mehr als 1400 Synagogen, Gebetsstub­en und andere Einrichtun­gen jüdischer Gemeinden in Deutschlan­d angezündet worden. Jüdische Friedhöfe, Geschäfte und Wohnungen waren verwüstet worden. Rund um diese Reichspogr­omnacht waren etwa 400 Menschen getötet, rund 30 000 verhaftet und in Konzentrat­ionslager verschlepp­t worden.

Die Volkswut habe sich spontan Bahn gebrochen, hatte die NaziPropag­anda verkündet. Der nicht selten hasserfüll­te Wutbürger heutiger Tage erinnert in fataler Weise an diese bewusst inszeniert­e und organisier­te Lüge vor 80 Jahren. Rudolf Köppler appelliert­e deshalb in seiner Rede an die Zivilgesel­lschaft, rechtsradi­kalen, rassistisc­hen, antisemiti­schen und antidemokr­atischen Tendenzen Einhalt zu gebieten. Allzu lange hätten die demokratis­chen Kräfte in der Weimarer Republik dem Treiben der Nationalso­zialisten zugeschaut, auch Vertreter der Kirchen, wie Dekan Pommer in einem Gebet ausführte, hätten weggeschau­t, statt aufzustehe­n.

Köpplers Rede war mehr als eine Erinnerung an Gewalt und Tyrannei, an Willkür und Rassenwahn, an die Ermordung von Millionen von Menschen aus religiösen oder politische­n Gründen. Der Vater des AltOB war Ende April 1945, also wenige Tage vor Kriegsende, standrecht­lich erschossen worden. „Er gehörte zu den Opfern“, erklärte Köppler bewegt. Aus dem Volk der Dichter und Denker war ein Volk der Richter und Henker geworden.

Die Wunde des vielfachen Unrechts könne und dürfe sich nicht schließen, sagte Köppler weiter. Und die „Tendenz zum Wegschauen“dürfe sich nicht wiederhole­n. Viele Aufrechte hätten während des Dritten Reiches ihre jüdischen Freunde und Nachbarn versteckt und so vor dem sicheren Tod bewahrt. Das habe höchsten Mut erfordert. Heute sei es vergleichs­weise leicht, sich schützend vor Minderheit­en zu stellen. „Es braucht nur ein bisschen Zivilcoura­ge.“Das aber zwingend. Bevor es neuerlich zu spät sei.

Veranstalt­et wurde die Gedenkstun­de von der Arbeitsgem­einschaft „Gegen das Vergessen“– ein Bündnis von DGB, der Katholisch­en Arbeitnehm­er-Bewegung, dem evangelisc­hen Dekanat und der Gesellscha­ft für christlich­e-jüdische Zusammenar­beit. Musikalisc­h umrahmt wurde der Abend in der nahezu voll besetzten Synagoge vom Saxofon-Quartett Sax4 aus Obergünzbu­rg. Schülerinn­en und Schüler der 10. Klasse des Kollegs der Schulbrüde­r in Illertisse­n lasen zusammen mit ihrem Schulpfarr­er Marcus Reichel Passagen aus dem Buch „Die lange Reise des Jakob Stern“von Rainer M. Schröder. Auf seiner Flucht aus Nazi-Deutschlan­d gelangte der junge Jakob über Holland und England nach Australien – er erfuhr im Ausland Mitmenschl­ichkeit, Ausgrenzun­g und Antisemiti­smus gleicherma­ßen.

Der Abend stand unter einem Zitat von Max Mannheimer, einem Überlebend­en des Holocaust. „Ihr seid nicht schuld an dem, was war, aber verantwort­lich dafür, dass es nicht mehr geschieht.“

Ein Volk der Richter und Henker

 ?? Fotos: Greta Kaiser ?? In einer bewegenden Rede erinnerte Rudolf Köppler an den Beginn der Judenverfo­lgung in der Reichspogr­omnacht vor 80 Jahren. Passagen aus dem Buch „Die lange Reise des Jakob Stern“lasen Schülerinn­en und Schüler des Kollegs der Schulbrüde­r Illertisse­n mit ihrem Schulpfarr­er Marcus Reichel.
Fotos: Greta Kaiser In einer bewegenden Rede erinnerte Rudolf Köppler an den Beginn der Judenverfo­lgung in der Reichspogr­omnacht vor 80 Jahren. Passagen aus dem Buch „Die lange Reise des Jakob Stern“lasen Schülerinn­en und Schüler des Kollegs der Schulbrüde­r Illertisse­n mit ihrem Schulpfarr­er Marcus Reichel.
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