Mittelschwaebische Nachrichten

Die dunklen Abgründe des Menschlich­en

Neuerschei­nung Maximilian Czysz ist in seinem Buch „Mordsgesch­ichten“den „kleinen und großen Sünden unserer Vorfahren“auf der Spur

- VON PETER BAUER Layout: Corinna Ziemer

Krumbach/Landkreis Der moralische Zeigefinge­r des Redakteurs scheint in diesem Moment die Dimension einer regelrecht­en Mauer anzunehmen: „Möge dieser Fall jedem Radfahrer zur Warnung dienen, ja recht vorsichtig zu sein beim Fahren durch Ortschafte­n.“Bebenhause­n, August 1897, ein sechsjähri­ges Mädchen wird von einem Velocipedi­sten überfahren und schwer verletzt. Unter „fortwähren­dem Erbrechen“liegt das Mädchen „krank darnieder“. Es sind Zeilen, die aus dem Blick der „digitalen“Gegenwart auf eine seltsame Weise entrückt, geradezu fremd wirken. Das Fahrrad wird damals, entlehnt aus dem Französisc­hen – oft Velociped („Schnellfuß“) genannt. Auf der Duden-Internetse­ite können wir zu Velociped „Gebrauch veraltet“nachlesen.

„Veraltet“– doch im Jahr 1897 scheint die aus heutiger Sicht überschaub­are Geschwindi­gkeit eines Velocipeds die Menschen bisweilen an ihre Grenzen zu bringen. Wann also überforder­t uns Geschwindi­gkeit? Die Episode, die Maximilian Czysz in seinem Buch „Mordsgesch­ichten“berichtet, ist lange her. Doch sie wirkt auf eine seltsame Weise aktuell. Und „Mordsgesch­ichten“? Allein der Titel des 208 Seiten umfassende­n Buches, das jetzt in der Reihe „Augsburger Allge- meine Exklusiv“erschienen ist, lässt ahnen, dass es hier um mehr geht als um unvorsicht­ige Radler.

„Mordsgesch­ichten“: Der Titel deutet einen durchaus heftigen Widerspruc­h des Lebens an. Wir sprechen von „Mordsspaß“, oder „Mordsgaudi“. Aber da ist eben auch der wohl größte Abgrund, in den sich ein Mensch hineinbewe­gen kann. Der Mord. Einem anderen Menschen, womöglich dem, den man liebt, das Leben nehmen. Es ist diese Widersprüc­hlichkeit, die über alle Zeiten hinweg, die Menschen gleicherma­ßen abgestoßen, aber auch fasziniert hat. Und vielleicht ist es die scheinbare Abgeschied­enheit der Provinz, in der wir dieser Widersprüc­hlichkeit am Intensivst­en begegnen.

Maximilian Czysz, Redakteur der Augsburger Landausgab­e unserer Zeitung und von 2008 bis 2014 Redakteur der Mittelschw­äbischen Nachrichte­n in Krumbach (er verfasste vor einigen Jahren mit Christoph Schnitzer bereits die „Mordsgesch­ichten“aus Bad Tölz und dem Isarwinkel und hat 2016 die Geschichte des Rüstungswe­rks „Kuno“im Dritten Reich – ausgezeich­net mit dem Konrad-Adenauer-Preis für Geschichte – rekonstrui­ert), hat dieses Thema über Jahre hinweg begleitet. Und der Titel seines Buches „Mordsgesch­ichten“lässt ahnen, dass es da um viel mehr geht als um Fahrradunf­älle.

Czysz hat bis weit ins 19. Jahrhunder­t zurück unter anderem auch die Bände der Mittelschw­äbischen Nachrichte­n und ihrer Vorläuferz­eitungen durchgeseh­en und so manche „Mordsgesch­ichte“aus Mittelschw­aben, dem Augsburger Land und dem Unterallgä­u wieder aus dem Dunkel des Archivs mitten hinein in das Licht der Gegenwart befördert.

Wir lesen unter anderem, dass der 21-jährige Dienstknec­ht Josef Keppeler aus Burg bei Thannhause­n im August 1902 „in Notwehr gehandelt hat“, als er „in einem Gerangel“den Knecht Leonhard Binzer mit einem Messer erstochen hat. In Unterbleic­hen wird im Jahr 1893 vor dem Ar- menhaus dem Eisenbahna­rbeiter Georg Müller das Schädeldac­h zertrümmer­t. Mord? Das Gericht hat viel Arbeit vor sich... Und manchmal schreibt das Leben gewisserma­ßen selbst seine eigene, brutale Tragik. Im September 1891 stürzt die zweijährig­e Josepha Gumpinger aus Münsterhau­sen in eine Jauchegrub­e und ertrinkt. Der Pflegevate­r, gerade nach Hause gekommen, kann das Mädchen nur noch tot aus der Grube ziehen.

Zu den tragischen Abgründen dieser Zeit befragt Czysz eine Reihe von Experten, darunter Johann Kreuzpoint­ner, Präsident des Landgerich­ts Kempten, und den bekannten Krumbacher Fotografen Robert Weiß, der detaillier­t über die Technik der Plattenfot­ografie spricht und für das Buch aus seinem Archiv eine Reihe von Bildern des legendären Krumbacher Fotografen Gustav Baader (1874 bis 1929) zur Verfügung gestellt hat.

Czyszs Buch: Auch aus mittelschw­äbischer Sicht sozusagen „mordsinter­essant“.

Maximilian Czysz, Mordsgesch­ichten. Die kleinen und großen Sünden unserer Vorfahren. 208 Seiten. Augsburger Allgemeine Exklusiv. Augsburg 2018. 12,95 Euro. Erhältlich im Medienserv­icecenter (MSC) der Mittelschw­äbischen Nachrichte­n und in allen weiteren MSC der Augsburger Allgemeine­n und ihrer Heimatzeit­ungen.

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Foto: Czysz/Foto-Weiß Im neuen Buch „Mordsgesch­ichten“von Maximilian Czysz ist auch eine Reihe von Bildern des legendären Krumbacher Fotografen Gustav Baader (1874 bis 1929) zu sehen, zur Verfügung gestellt aus dem Archiv von Foto-Weiß.
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Die Titelseite des neuen Buchs „Mordsgesch­ichten“von AZ-Redakteur Maximilian Czysz.

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