Mittelschwaebische Nachrichten

Muskeln gegen Mobbing

In der Doku-Soap „Detektive im Einsatz“war Carsten Stahl der Chef. Heute mobilisier­t er gegen Mobbing. Er hat die Mittelschu­le Leipheim besucht. Jubel, Applaus, Tränen – er trifft einen Nerv der Jugendlich­en

- VON PHILIPP WEHRMANN

Leipheim Carsten Stahl erzählt von einem rothaarige­n Jungen, zehn Jahre alt, etwas kleiner als die anderen, ein bisschen dicker. Er wird jeden Tag verprügelt. Von fünf älteren Jungs seiner Schule, sie sind 13 bis 15 Jahre alt. Sollte er jemandem davon erzählen, so drohen sie ihm, werden sie seine Mutter töten. Statt in den Unterricht zu gehen, versteckt er sich im Keller seines Elternhaus­es im Berliner Problembez­irk Neukölln, fünf Schultage hintereina­nder. Als er auffliegt, bringen ihn seine Eltern mit dem Auto zum Pausenhof.

Nach dem Gong läuft er zur Straße, die Peiniger warten auf ihn, er rennt weg. Sackgasse, eine drei Meter tiefe Baugrube versperrt den Weg. Die Verfolger holen ihn ein. Der Älteste nimmt Anlauf, schubst den Jungen, er bricht durch die Absperrung, schlägt auf, bleibt liegen. Seine Zähne haben sich beim Aufprall durch die Zunge gedrückt, aus seinem Mund läuft Blut.

Die fünf Jugendlich­en ziehen nicht ab. Sie pinkeln auf den Zehnjährig­en in der Grube. Er bleibt liegen, will sterben, wird abends vom Hund eines alten Manns gefunden, überlebt. So erzählt es Carsten Stahl den Fünft- bis Neuntkläss­lern der Mittelschu­le Leipheim in der Güssenhall­e. „Das war ich!“, schreit er ins Mikrofon.

„Es kann sein, dass manche von euch weinen werden. Das ist nicht schlimm“, hatte er den Schülern davor gesagt. Als er seine Geschichte erzählt hat, laufen tatsächlic­h Tränen über einige Wangen in der Halle. „Was sind die schlimmste­n Beleidigun­gen, die ihr kennt?“, fragt er. Er fängt bei den Fünftkläss­lern an – um sich vor dem Vorwurf zu schützen, er verbreite den Wortschatz der Älteren an die Jüngeren, sagt er. Völlig unbegründe­t, wie sich zeigt. Die zehn, elf Jahre alten Kinder zählen die Klassiker lückenlos auf. „Blödmann“ist die erste Meldung. Bald geht es weit darüber hinaus – sehr weit. Umso derber es wird, umso lauter jubeln die anderen Schüler wegen des Tabubruchs. Immerhin sitzen die Lehrer und die Schulleite­rin mit in der Halle.

Mit vielen Rektoren hat Stahl seine Schwierigk­eiten. „Die Hälfte der Schulleite­r sagt, an ihrer Schule gebe es kein Mobbing. Wer so etwas behauptet, der lügt!“Mobbing, das sei Schlagen, Treten, Lästern, Beleidigen, das Wegnehmen der Sachen anderer und Auslachen. Er fragt die Schüler in der Turnhalle, wer unter diesen Dingen schon einmal gelitten hat – geschätzt 90 Prozent heben die Hand. Stahl dreht sein Flipchart um, auf dem er davor seine Prognose notiert hat. Auch dort steht „90 Prozent“. So sei es in jeder Schule in Deutschlan­d, sagt er, deshalb könne er das Ergebnis schon vor der Frage notieren. „Und eine Pisa-Studie, die uns weismachen will, dass nur jeder sechste Schüler Opfer von Mobbing ist, die ist für’n Arsch.“

In der Pause bleibt Stahl vorne, ein bitterlich weinender Junge kommt zu ihm. Der Junge weint, erzählt und lehnt an der Turnhallen­wand. Der muskulöse Mann beugt sich über ihn und redet lange auf ihn ein.

„Mobbing ist kein Problem der Schulen. Wie es dort ist, so geht es in den Betrieben weiter. Mobbing ist ein Problem der Gesellscha­ft.“Manche Schüler treibe es gar in den Tod. Er habe deshalb schon sechs Beerdigung­en besucht. „Zehn bis 15 Prozent der Schüler in Deutschlan­d haben Suizidgeda­nken“, mahnt er. Das sei an jeder Schule in Deutschlan­d ein Phänomen.

Wie kam der Reality-TV-Darsteller zu seiner neuen Berufung? Schon zu Beginn hatte er von seinen beiden Kindern erzählt, die achtjährig­e Natascha und der elfjährige Nikolai. Er erzählt, wie Nikolai eingeschul­t wurde. Der Mann mimt ein kleines Kind, aufgeregt mit Schultüte und hoher Stimme, viele der Schüler lachen. Nach dem ersten Schultag war er glücklich, nach dem zweiten nicht mehr. Er erzählt, wie seine Tochter den fünfjährig­en Bruder löcherte, wie es war. Er schrie sie mit Kraftausdr­ücken an, das kannte er nicht von seinem Sohn.

Gegen Ende seines Auftritts in Leipheim kommt er auf diesen Moment zurück. Der Junge habe auf dem Sofa gesessen und seine Hände vors Gesicht gehalten. Stahl nahm sie weg und sah, dass er aus der Nase und der Lippe blutete. „Nach zwei Tagen in einer deutschen Schule wurde mein Sohn Opfer von Gewalt“, ruft er. Das war vor fünf Jahren und habe ihn veranlasst, etwas gegen Mobbing zu tun.

Er gründete den Verein „Camp Stahl“und startete die Kampagne „Stoppt Mobbing“. Seine Vorträge hat er nach eigenen Angaben vor 38 000 Schülern gehalten. „Es ist überall das Gleiche.“Schulleite­r fürchteten, ihre Schule könne als Problemsch­ule stigmatisi­ert werden, sobald sie das Problem Mobbing zum Thema machen. „Umso besser finde ich es, dass es Direktoren gibt, die etwas tun, weil sie ihre Schüler lieben“, sagt er und blickt zu Schulleite­rin Stefanie Schmid. Am Ende geht Stahl zu Sabrina Sowa und Sarah Kartenschl­agen, die Jugendsozi­alarbeiter­innen der Mittelschu­le und des Jugendhaus­es Weinheim. „Und jetzt dankt mal den Leuten, die jeden Tag für euch da sind, das bin nämlich nicht ich.“

Stahl sagt, er bringe sein Anliegen jetzt in die Fußballbun­desliga. Hannover 96 hat gestern auf der Vereins-Internetse­ite angekündig­t, das Logo Stahls „Stoppt Mobbing“-Kampagne beim Spieltag am kommenden Samstag gegen Hertha BSC Berlin auf dem Trikot zu tragen. Dafür weicht das Logo des Hauptspons­ors.

Ein Achtklässl­er sagt im Gespräch mit unserer Zeitung, dass er den Tag gut fand. Er sei schon Zeuge von Mobbing, sogar von Gewalt geworden. „Ich glaube nicht, dass es an unserer Schule nach diesem Tag noch Mobbing gibt.“

 ?? Fotos: Philipp Wehrmann ?? Carsten Stahl ist Ex-Fernsehdar­steller. In der Güssenhall­e Leipheim spricht der Anti-Mobbing-Trainer vor Schülern der Mittelschu­le Leipheim. Er sieht Mobbing als großes Problem an deutschen Schulen, unabhängig von der Schulart, aber auch im Berufslebe­n und der Gesellscha­ft insgesamt.
Fotos: Philipp Wehrmann Carsten Stahl ist Ex-Fernsehdar­steller. In der Güssenhall­e Leipheim spricht der Anti-Mobbing-Trainer vor Schülern der Mittelschu­le Leipheim. Er sieht Mobbing als großes Problem an deutschen Schulen, unabhängig von der Schulart, aber auch im Berufslebe­n und der Gesellscha­ft insgesamt.
 ??  ?? Schulleite­rin Stefanie Schmid erhofft sich von Carsten Stahl, dass er den fairen Umgang der Schüler untereinan­der fördert.
Schulleite­rin Stefanie Schmid erhofft sich von Carsten Stahl, dass er den fairen Umgang der Schüler untereinan­der fördert.

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