Mittelschwaebische Nachrichten
Muskeln gegen Mobbing
In der Doku-Soap „Detektive im Einsatz“war Carsten Stahl der Chef. Heute mobilisiert er gegen Mobbing. Er hat die Mittelschule Leipheim besucht. Jubel, Applaus, Tränen – er trifft einen Nerv der Jugendlichen
Leipheim Carsten Stahl erzählt von einem rothaarigen Jungen, zehn Jahre alt, etwas kleiner als die anderen, ein bisschen dicker. Er wird jeden Tag verprügelt. Von fünf älteren Jungs seiner Schule, sie sind 13 bis 15 Jahre alt. Sollte er jemandem davon erzählen, so drohen sie ihm, werden sie seine Mutter töten. Statt in den Unterricht zu gehen, versteckt er sich im Keller seines Elternhauses im Berliner Problembezirk Neukölln, fünf Schultage hintereinander. Als er auffliegt, bringen ihn seine Eltern mit dem Auto zum Pausenhof.
Nach dem Gong läuft er zur Straße, die Peiniger warten auf ihn, er rennt weg. Sackgasse, eine drei Meter tiefe Baugrube versperrt den Weg. Die Verfolger holen ihn ein. Der Älteste nimmt Anlauf, schubst den Jungen, er bricht durch die Absperrung, schlägt auf, bleibt liegen. Seine Zähne haben sich beim Aufprall durch die Zunge gedrückt, aus seinem Mund läuft Blut.
Die fünf Jugendlichen ziehen nicht ab. Sie pinkeln auf den Zehnjährigen in der Grube. Er bleibt liegen, will sterben, wird abends vom Hund eines alten Manns gefunden, überlebt. So erzählt es Carsten Stahl den Fünft- bis Neuntklässlern der Mittelschule Leipheim in der Güssenhalle. „Das war ich!“, schreit er ins Mikrofon.
„Es kann sein, dass manche von euch weinen werden. Das ist nicht schlimm“, hatte er den Schülern davor gesagt. Als er seine Geschichte erzählt hat, laufen tatsächlich Tränen über einige Wangen in der Halle. „Was sind die schlimmsten Beleidigungen, die ihr kennt?“, fragt er. Er fängt bei den Fünftklässlern an – um sich vor dem Vorwurf zu schützen, er verbreite den Wortschatz der Älteren an die Jüngeren, sagt er. Völlig unbegründet, wie sich zeigt. Die zehn, elf Jahre alten Kinder zählen die Klassiker lückenlos auf. „Blödmann“ist die erste Meldung. Bald geht es weit darüber hinaus – sehr weit. Umso derber es wird, umso lauter jubeln die anderen Schüler wegen des Tabubruchs. Immerhin sitzen die Lehrer und die Schulleiterin mit in der Halle.
Mit vielen Rektoren hat Stahl seine Schwierigkeiten. „Die Hälfte der Schulleiter sagt, an ihrer Schule gebe es kein Mobbing. Wer so etwas behauptet, der lügt!“Mobbing, das sei Schlagen, Treten, Lästern, Beleidigen, das Wegnehmen der Sachen anderer und Auslachen. Er fragt die Schüler in der Turnhalle, wer unter diesen Dingen schon einmal gelitten hat – geschätzt 90 Prozent heben die Hand. Stahl dreht sein Flipchart um, auf dem er davor seine Prognose notiert hat. Auch dort steht „90 Prozent“. So sei es in jeder Schule in Deutschland, sagt er, deshalb könne er das Ergebnis schon vor der Frage notieren. „Und eine Pisa-Studie, die uns weismachen will, dass nur jeder sechste Schüler Opfer von Mobbing ist, die ist für’n Arsch.“
In der Pause bleibt Stahl vorne, ein bitterlich weinender Junge kommt zu ihm. Der Junge weint, erzählt und lehnt an der Turnhallenwand. Der muskulöse Mann beugt sich über ihn und redet lange auf ihn ein.
„Mobbing ist kein Problem der Schulen. Wie es dort ist, so geht es in den Betrieben weiter. Mobbing ist ein Problem der Gesellschaft.“Manche Schüler treibe es gar in den Tod. Er habe deshalb schon sechs Beerdigungen besucht. „Zehn bis 15 Prozent der Schüler in Deutschland haben Suizidgedanken“, mahnt er. Das sei an jeder Schule in Deutschland ein Phänomen.
Wie kam der Reality-TV-Darsteller zu seiner neuen Berufung? Schon zu Beginn hatte er von seinen beiden Kindern erzählt, die achtjährige Natascha und der elfjährige Nikolai. Er erzählt, wie Nikolai eingeschult wurde. Der Mann mimt ein kleines Kind, aufgeregt mit Schultüte und hoher Stimme, viele der Schüler lachen. Nach dem ersten Schultag war er glücklich, nach dem zweiten nicht mehr. Er erzählt, wie seine Tochter den fünfjährigen Bruder löcherte, wie es war. Er schrie sie mit Kraftausdrücken an, das kannte er nicht von seinem Sohn.
Gegen Ende seines Auftritts in Leipheim kommt er auf diesen Moment zurück. Der Junge habe auf dem Sofa gesessen und seine Hände vors Gesicht gehalten. Stahl nahm sie weg und sah, dass er aus der Nase und der Lippe blutete. „Nach zwei Tagen in einer deutschen Schule wurde mein Sohn Opfer von Gewalt“, ruft er. Das war vor fünf Jahren und habe ihn veranlasst, etwas gegen Mobbing zu tun.
Er gründete den Verein „Camp Stahl“und startete die Kampagne „Stoppt Mobbing“. Seine Vorträge hat er nach eigenen Angaben vor 38 000 Schülern gehalten. „Es ist überall das Gleiche.“Schulleiter fürchteten, ihre Schule könne als Problemschule stigmatisiert werden, sobald sie das Problem Mobbing zum Thema machen. „Umso besser finde ich es, dass es Direktoren gibt, die etwas tun, weil sie ihre Schüler lieben“, sagt er und blickt zu Schulleiterin Stefanie Schmid. Am Ende geht Stahl zu Sabrina Sowa und Sarah Kartenschlagen, die Jugendsozialarbeiterinnen der Mittelschule und des Jugendhauses Weinheim. „Und jetzt dankt mal den Leuten, die jeden Tag für euch da sind, das bin nämlich nicht ich.“
Stahl sagt, er bringe sein Anliegen jetzt in die Fußballbundesliga. Hannover 96 hat gestern auf der Vereins-Internetseite angekündigt, das Logo Stahls „Stoppt Mobbing“-Kampagne beim Spieltag am kommenden Samstag gegen Hertha BSC Berlin auf dem Trikot zu tragen. Dafür weicht das Logo des Hauptsponsors.
Ein Achtklässler sagt im Gespräch mit unserer Zeitung, dass er den Tag gut fand. Er sei schon Zeuge von Mobbing, sogar von Gewalt geworden. „Ich glaube nicht, dass es an unserer Schule nach diesem Tag noch Mobbing gibt.“