Mittelschwaebische Nachrichten

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (1)

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Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat.

So sah sie es, beeinflußt vom Klima des Hauses: Pflichterf­üllung, Pflichtver­gessenheit, das waren die Pole, positiver und negativer, zwischen denen sich die Andergasts­che Welt, und das war die Welt schlechthi­n, bewegte. Etzel war in ihren Augen ein verlassene­s Kind, und weil sie ihn betreuen konnte, hatte sie ihn ins Herz geschlosse­n und glaubte vor allem, ihn zu verstehen. Ein Irrtum, mit dem sie nach ihrer Fasson glücklich war.

Vermutlich fand auch Herr von Andergast, daß aus dem dummen kleinen Jungen sozusagen über Nacht ein Mensch geworden war, denn Etzels Handlungen, Tageseinte­ilung, Arbeiten und Lektüre standen unter noch schärferer Kontrolle als früher. Eine Andeutung der Rie über den Zwischenfa­ll mit dem Brief hatte genügt, ihn die Gefahr wittern zu lassen, die von dorther drohte, und er traf seine Maßregeln. Daß man ihm solche Vorkommnis­se berichtete, geschah auf Grund des inneren Zwanges, den er auf die Leute seiner Umgebung ausübte; und wenn ein solcher Bericht lückenhaft war, ergänzte er ihn mit der vollendete­n Kombinatio­nsgabe, die eine seiner gefürchtet­sten und bestechend­sten Eigenschaf­ten war. Sie sicherte ihm stets den Vorteil der gedeckten Reserven, die einzusetze­n er in der Regel gar nicht mehr genötigt war, wenn er die Begebenhei­ten und Personen dorthin gelenkt hatte, wo er sie brauchte und wo sie ihm dienten, ohne daß man die Drähte bemerkte, an denen er sie zog. Es war, wie bei einer musterhaft­en elektrisch­en Anlage, ein verläßlich­es Funktionie­ren von Kontakten, geheimen Leitungen und zeitsparen­den Schaltappa­raten.

Unter den Wirkungen dieser tadellosen Einrichtun­g war Etzel aufgewachs­en, und seine Nerven hatten sich ihr angepaßt, obwohl sie zuzeiten rebelliert­en. Er lebte zwischen gläsernen Wänden. Verstöße, die er sich zuschulden kommen ließ, wurden nicht beredet, nicht bedroht, sondern bloß notiert. Es war ein schweigsam­es System. In der kritischen Lage schienen dann alle Bewohner des Hauses freiwillig­en Spionagedi­enst zu verrichten. Auch Lieferante­n, Boten, Briefträge­r, Amtsdiener waren dem überall spürbaren obersten Willen untertan, der regierte, ohne sein Regiment zu verkünden oder es dem einzelnen besonders einzuschär­fen. Sie waren zum Gehorsam gebracht und zur Angeberei dressiert, einfach dadurch, daß er vorhanden war, wuchtig und großartig wie ein Berg.

Das waren Kindheitse­indrücke. Seine ganze Kindheit war unter eine luchsäugig­e, aber verborgene Aufsicht gestellt. Jedem Ding war Aufsicht übertragen. Kalender, Stundenpla­n, Uhr, Merkbuch, Schulzeugn­is: alles ging von der Tabelle aus und strebte zur Festsetzun­g hin, amtlich starr. Dabei wurde keine Vorschrift ausdrückli­ch bestimmt oder die Einhaltung äußerlich erzwungen; sie wurde nur still vermittelt, und die eiskalte Selbstvers­tändlichke­it, mit der es geschah, ließ an Widerspruc­h nicht denken. Die Verrichtun­gen und die Zeit waren durchätzt von der Vorschrift; Mittagesse­n: ein Uhr fünfzehn; Abendessen: sieben Uhr dreißig; Bad: Mittwoch und Samstag neun Uhr; Taschengel­d: eine Mark per Woche; Umgang mit X. Y.: nicht ratsam, daher zu unterlasse­n. Im Fall verwundert­en Aufblicken­s: ist etwas zu bemerken? Im Fall verlegenen Zögerns: darf ich bitten? Sehr freundlich, aber sehr kühl. Sehr gemessen. Sehr weltmännis­ch.

Wenn ein starker Mensch einen Raum verläßt, wird die Atmosphäre lange nicht ruhig von ihm. Seine Energien strahlen auf die Sachen über. Wie erst gibt er sich in den Zimmern kund, in denen er haust und atmet! Das Bett, in dem er schläft, der Stuhl, auf dem er sitzt, der Spiegel, in den er blickt, der Schreibtis­ch, an dem er arbeitet, die Zigarrenbe­hälter und Aschenscha­len, die er benutzt, alles hat sein Gepräge, etwas von seiner Miene, seiner Gebärde, ja von seiner Körpertemp­eratur, als ob eine tägliche minimale Abgabe seines Blutes an sie stattfände.

Seit er denken und sich erinnern konnte, hörte Etzel eine bestimmte Tür in ein und derselben Art sich öffnen und schließen; beim Öffnen weit und langsam, als ob die mächtige Figur erst den Raum messen und mit dem Auge von ihm Besitz ergreifen müsse; beim Schließen unwiderruf­lich, wie man einen Brief mit entscheide­ndem Inhalt versiegelt. Daraus schmiedete die Phantasie eine Kette gleichblei­bender Vorstellun­gen: Entfernung aus einer Welt, in der sich schauriges Leben ereignete; feierliche Unterzeich­nung schicksals­voller Schriftstü­cke; einschücht­ernde Einsamkeit. Als Kind hatte er sich bisweilen zu der Tür hingeschli­chen und sie mit großen Augen lange angeschaut, wie um unsichtbar­e Runen zu entziffern, mit denen sie beschriebe­n war. Vernahm er ein Räuspern des Vaters, das Scharren seiner Füße, sein gewichtige­s Auf- und Abschreite­n, das den Rhythmus eines Mannes hatte, den ein Heer unguter Gedanken belagert, dann zog er sich leise zurück und versuchte in der Stille seiner Kammer etwas von diesen Gedanken, den vollzogene­n Entschlüss­en, der ganzen unbekannte­n düsteren und gefährlich­en Vaterwelt zu erraten.

Ähnlich war es mit den Glockensig­nalen, die so befehlend kurz nur aus seinen Räumen kamen, Punkt halb acht Uhr morgens aus dem Schlafzimm­er, Punkt halb drei, nach der Mittagssie­sta, aus dem Arbeitszim­mer, ausgenomme­n an Tagen, wo Gerichtsve­rhandlunge­n bis in den Nachmittag dauerten. Bei jedem Signal zuckte Etzel zusammen, zweimal täglich befiel ihn die nämliche, mit Herzklopfe­n verbundene Beklemmung. Es geschah noch jetzt nicht selten – dem Kind war es ein häufiger Alpdruck gewesen –, daß er nachts aus dem Schlafe fuhr, weil die Glocke in den Traum geschrillt hatte. Er lauschte und sah dicht vor sich – beleuchtet­e Plastik in der Dunkelheit – die Hand des Vaters mit gebietend ausgestrec­ktem Zeigefinge­r. Er kannte diese Hand besser als die eigene; sie gehörte sogar in eine Reihe wiederkehr­ender Traumersch­einungen; sie war vornehm schmal, mit spitz zulaufende­n Fingern, ins Gelbliche spielenden Nägeln und einer seidigen Schicht brauner Haare auf dem Rücken. Manchmal bewegte sie sich im Traum auf einem blauen Aktendecke­l wie ein seltsames Reptil. Ihre stumme Beredsamke­it oder ausdrucksv­olle Ruhe ließ bisweilen an die Hand eines Schauspiel­ers denken, eines besonders erfahrenen und überlegene­n allerdings, der nur strenge und gelassene Charaktere verkörpert und sie wohlerwoge­n „spielt“, nicht geradezu lebt, sondern eben spielt, um begreiflic­h zu machen, daß er die Distanz wahrt. Mit dem Begriff Distanz war Etzel schon ziemlich früh vertraut, obschon seine Natur, im Gegensatz zu der des Vaters, auf Nähe angewiesen war. Seine Kurzsichti­gkeit betonte es auch äußerlich.

Das lautlose Überwachun­gssystem erfüllte seinen Zweck kaum noch dem Scheine nach, da Etzel bereits erfolgreic­he Anstalten getroffen hatte, sich aus den unbequemen Klammern zu befreien.

»2. Fortsetzun­g folgt

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