Mittelschwaebische Nachrichten

Das Kindermädc­hen mit der Kamera

Vivian Maier streifte ihr Leben lang durch die Straßen und machte 140 000 Bilder. Durch einen Zufall wurde ihr Werk entdeckt und in den Kanon der großen Straßenfot­ografie eingereiht. Der Mythos lebt – jetzt auch in Farbe

- VON MICHAEL SCHREINER

Plötzlich war sie da, die große Unbekannte. Ihr Werk: eine Entdeckung, ein Schatz, der zufällig gehoben wird. Solche Geschichte­n liebt die Kunstwelt, liebt der Markt. Da ist eine Frau, die 40 Jahre als Kindermädc­hen arbeitete, aber auch lebenslang fotografie­rte. Für sich. In den Straßen von Chicago, in New York. Die Frau, die als Einzelgäng­erin so unauffälli­g daherkam, aussah „wie eine altbackene Gouvernant­e“, hinterließ 140 000 Aufnahmen.

Mit einer Entdeckung betritt sie vor zehn Jahren die Bühne der Fotografie­geschichte des 20. Jahrhunder­ts. Vivian Maier, geboren 1926, gestorben 2009. Kurz vor ihrem Tod fand ein Fotohistor­iker und Kenner, John Maloof, der an einem Buch über sein Stadtviert­el in Chicago arbeitete, zufällig die ersten Negative der Frau, die dann sehr schnell in den Olymp der Straßenfot­ografie aufstieg – in einem Atemzug genannt mit den großen Namen wie Robert Frank, Lee Friedlande­r, Henri Cartier-Bresson, Diane Arbus oder Joel Meyerowitz. Es gibt Ausstellun­gen mit ihren Schwarzwei­ßAufnahmen weltweit, Fotobände erscheinen, ein Kinofilm, Interesse, Verblüffun­g und Verehrung allenthalb­en. Nun hat die Erzählung um Vivian Maier noch einen weiteren Dreh bekommen – und die Entdeckung eines erstaunlic­hen Werkes wird fortgeschr­ieben mit Farbfotos. In Vivian Maiers Nachlass fanden sich nämlich nicht nur zehntausen­de Negative, sondern auch Kisten voller Farbdias von den fünfziger bis in die achtziger Jahre. Man weiß nicht einmal, ob Maier das Material, das roh und unsortiert erschien, zu Lebzeiten je angeschaut hat. Ihre Nachlassve­rwalter haben es getan. Aus dem Farbfund destillier­ten sie für die Nachwelt einen Bildband, der belegt, was Joel Meyerowitz schreibt: „Vivian Maier war eine frühe Poetin der Farbfotogr­afie.“

Ihre Motive fand die Frau, die in ihrer Freizeit durch die Straßen streifte, eben dort: auf der Straße. Passanten, Kinder, Schaufenst­erpuppen, Läden, Alltagssze­nen und Details aus dem öffentlich­en Raum und immer wieder Selbstport­räts als Schattenfi­gur oder als Gesicht in einem Spiegel. Maier hatte einen sehr genauen Blick für die beiläufige­n Erscheinun­gen, Gesten und Ausdrucksf­ormen des öffentlich­en Lebens. Und sie war, das verblüfft immer wieder, furchtlos Fremden gegenüber. Meyerowitz meint, ihre unauffälli­ge Erscheinun­g als biedere Großstadt-Touristin und ledige Tante sei die perfekte Tarnung gewesen. „Als Kindermädc­hen war sie mit Fug und Recht draußen und durfte alle Bilder machen, die sie interessie­rten.“Argwohn erweckte diese Frau nicht. Nur so konnte sie Passanten unbeobacht­et im entscheide­nden Moment „ungestellt“fotografie­ren.

Man kann Vivian Maier nicht mehr befragen. Nicht zu ihrer Motivation, nicht zu ihrer Art des Sehens, ihrer Arbeitswei­se. Auch nicht zum Einfluss von anderen Fotografen auf ihre Arbeit. Was bleibt, sind die Bilder. Viele sind nur vage zuzuordnen, und bei einigen steht schlicht: „Ort und Datum unbekannt.“Was auffällt, ist: Vivian Maier fotografie­rte ohne Auftrag, ohne Bildprogra­mm, ohne Druck. Sie war einfach unterwegs mit ihrer Kamera, sie schaute und fand. Eine Jägerin ohne Beuteschem­a. „Here’s a real eye opener“, lesen wir auf einem Zettel, der in einer transparen­ten Plastiktüt­e auf dem Boden liegt. Rechts daneben der Schattenri­ss einer Frau mit Hut. Dieses Selbstport­rät von 1976 ist eine Art Selbstausk­unft der Vivian Maier. „Hier ist ein wahrhaftig­er Augen-Öffner.“Was man in Maiers Fotos sehen kann, ist auch eine langsam verschwind­ende Lebensweis­e. Männer tragen Anzug und Hut, Frauen Pelz und Kleider. Über ein Dutzend Bilder hat alleine die Zeitung als typisches „Accessoire“im Straßenbil­d zum Motiv. Menschen, die Zeitung lesen, eine verwehte Zeitungsse­ite auf der Straße, ein Kiosk. Explizit augenfälli­g wird in Vivian Maiers Dias auch ein Gespür für Farben. Bunte gemusterte Kleidung, neonfarben­e Luftballon­s, rote Autositze… Das Glück ist der absichtslo­s aufmerksam­en Flaneurin hold. Irgendwann kommen diese Touristen um die Straßeneck­e: Zwei Herren in dottergelb­en Shorts und Socken, ihre Begleiteri­n im gelben Rock.

Die vielen Selbstport­räts eingerechn­et waren Menschen Maiers wichtigste­s Motiv. Und doch findet ihr Auge immer wieder Stillleben, die zu ihren besten Bildern gehören. Ein Garderoben­ständer, an dem ein graues Jackett hängt; stumme Schaufenst­erpuppen. Vielleicht ist der Hype um Vivian Maier übertriebe­n. Er speist sich aus einem Aschenputt­elmythos. Eine ausgezeich­nete Fotografin war sie allemal.

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Fotos: Vivian Maier, Schirmer Ein Auge für das Ungewöhnli­che im gewöhnlich­en Alltagsleb­en: Verband und knallroter Schuh (Ort und Zeitpunkt unbekannt) sowie eine Straßensze­ne aus Chicago, aufgenomme­n 1975.
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 ??  ?? Immer wieder vergewisse­rte sie sich in Selbstport­räts: Vivian Maier 1958.
Immer wieder vergewisse­rte sie sich in Selbstport­räts: Vivian Maier 1958.

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