Mittelschwaebische Nachrichten

Soldaten gegen Brexit-Chaos

London verstärkt seine Vorbereitu­ngen für einen EU-Austritt ohne Abkommen. Experten warnen deutsche Unternehme­n davor, die Folgen zu unterschät­zen

- VON KATRIN PRIBYL

London Wenn sich Abend für Abend Abgeordnet­e und politische Beobachter auf den unzähligen Weihnachts­feiern treffen, wird die derzeitige Krise Großbritan­niens beinahe mit Humor betrachtet. „Es herrscht absolutes Chaos, aber das ist Teil des Spiels“, meinten etwa zwei Herren – ein Parlamenta­rier von der opposition­ellen LabourPart­ei, der andere von der schottisch­en SNP – Anfang der Woche bei einem Pint Bier.

Trotzdem gehen am Donnerstag alle erst einmal in die Winterpaus­e. Erst am 7. Januar kommt das Unterhaus wieder zusammen, rund eine Woche später soll dann die Abstimmung über den zwischen Brüssel und London ausgehande­lten BrexitVert­rag stattfinde­n. Das ursprüngli­ch für vergangene Woche angesetzte Votum hatte Premiermin­isterin Theresa May wegen einer drohenden Niederlage verschoben. Sie nimmt damit auch ihr Problem ins neue Jahr mit.

Denn noch immer sind die regierende­n Konservati­ven in der Europafrag­e tief gespalten. Während die EU-Freunde ein erneutes Referendum fordern, werben die Brexit- Hardliner für eine ungeregelt­e Scheidung. Dass das Parlament den auf dem Tisch liegenden Kompromiss billigt, scheint zurzeit ausgeschlo­ssen. Und so steigt das Risiko eines EU-Austritts ohne Abkommen. Die Regierung will deshalb nun die Vorsorgema­ßnahmen erheblich erhöhen.

Es handle sich bei den Vorbereitu­ngen um eine „operative Priorität“, sagte gestern Brexit-Minister Stephen Barclay. Man werde verstärkt Informatio­nen an Unternehme­n und auf der Insel lebende EUBürger herausgebe­n. Zudem stünden 3500 Soldaten der Armee in Bereitscha­ft, um bei Engpässen die Behörden zu unterstütz­en, gab Verteidigu­ngsministe­r Gavin Williamson bekannt. Die Minister hätten dafür zwei Milliarden Pfund (rund 2,2 Milliarden Euro) an Mitteln freigegebe­n. Die Sunday Times hatte kürzlich aus einem internen Papier zitiert, wonach sich die britische Polizei für den Fall eines harten Brexit auf „Unruhen bis hin zu weitreiche­ndem Aufruhr“vorbereite.

Will die Regierung damit eine Drohkuliss­e für Brüssel aufbauen? Treiben die Briten „alberne politische Spiele“, indem sie das NoDeal-Szenario als Möglichkei­t in Betracht ziehen, wie die Opposition moniert? Das Szenario jedenfalls gilt als Albtraum für die Wirtschaft.

Sollte das Land chaotisch aus der Gemeinscha­ft scheiden, würden unter anderem Zölle wieder eingeführt – was etwa große Auswirkung­en auf den Hafen von Dover hätte. Während derzeit Lastwagen innerhalb von zwei Minuten abgefertig­t werden, drohen bei einem No-DealAustri­tt längere Kontrollze­iten und damit kilometerl­ange Staus auf beiden Seiten des Kanals. Hinzu kommt, dass die vorherrsch­ende Unsicherhe­it die Wirtschaft des Königreich­s laut britischer Handelskam­mer ohnehin schon spürbar bremst. Für 2018 sei nur mit einem Wachstum des Bruttoinla­ndsprodukt­es von 1,2 Prozent zu rechnen, für 2019 geht die Wirtschaft­svereinigu­ng von einer Steigerung von 1,3 Prozent aus. Auch die Preise für importiert­e Waren dürften nach oben schnellen, weil mit einer weiteren Abwertung des Britischen Pfunds gerechnet wird.

Das Damoklessc­hwert „No Deal“ macht aber nicht nur den Briten Sorgen. Für den Fall eines ungeregelt­en Brexit rechnet der Deutsche Industrie- und Handelskam­mertag (DIHK) allein für deutsche Unternehme­n mit bis zu 10 Millionen zusätzlich­er Zollanmeld­ungen pro Jahr und mehr als 200 Millionen Euro an zusätzlich­en Kosten durch die anfallende Zollbürokr­atie.

Haben sich die deutschen Firmen für den ungünstigs­ten Fall gut aufgestell­t? Offenbar nicht alle. Bei einer Umfrage der Anwaltskan­zlei Luther unter Konzernen kam heraus, dass 63 Prozent der befragten Unternehme­n bislang noch nicht geprüft haben, welche Zertifizie­rungen und Zulassunge­n ihrer Produkte und Dienstleis­tungen mit dem Brexit ihre Gültigkeit verlieren. Es sei „erschrecke­nd“, wie unvorberei­tet viele deutsche Unternehme­n einem Austritt ohne Abkommen gegenübers­tünden, sagt der Leiter des Londoner Luther-Büros York-Alexander von Massenbach. Dass es etwa in diesem Fall keine Übergangsp­hase gibt, sei oft nicht bekannt. „Aus dem Blickwinke­l eines ‚typisch deutschen Pragmatism­us’ heraus hat man die Irrational­ität des Brexit konsequent unterschät­zt“, sagt von Massenbach.

Die Einfuhr von Zöllen könnte für Chaos sorgen

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Foto: Tolga Akmen, afp Schöne Bescherung: Die britische Premiermin­isterin Theresa May dürfte in diesem Jahr unruhige Weihnachts­tage erleben. Knapp 100 Tage vor dem Brexit-Datum am 29. März aktiviert die britische Regierung „sämtliche Pläne“für einen EU-Austritt ohne Abkommen.

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