Mittelschwaebische Nachrichten
Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (3)
ELeonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchieren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwalt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlich ereignet hat. © Projekt Gutenberg
r sah auch nicht besonders vertrauenerweckend aus mit dem brennroten Haarschopf, dem von kaffeebraunen Sommersprossen übersäten Gesicht und dem wehenden Flaus über den Schultern. Als er ihnen schließlich die Anklage zuschleuderte, sie und ihre Hintermänner terrorisierten bereits diejenigen unter den Lehrern, die man bisher noch zu den Aufrechten habe zählen dürfen, sogar ein Mann wie Camill Raff bekenne sich nicht mehr offen, sondern habe sich scheu in den Beobachterwinkel verkrochen, war er ganz grün vor Wut und schien nicht übel Lust zu haben, sich auf Schuster und die zwei Müller zu stürzen. Jener grinste halb verlegen, halb herausfordernd, der Stotterer Schlehlein, durch die Majorität sich geschützt wissend, pflanzte sich vor Thielemann auf und sagte unverschämt: „Das ist wa… wahr, dein Raff ge… ge… gehört eben auch zu den Bro… Bro… Brotsitzern. Hat A… A… Angst um die Stellung.“Thielemann maß ihn mit geringschätzigem
Blick und warf hin: „Halts Maul, du Tropf!“Er sah sich nach Unterstützung um, aber es war niemand da für ihn, denn Etzel, dem derlei Auftritte zuwider waren, hatte sich von der hadernden Schar abgesondert und war vorausgegangen. Sie hatten vom Schweizerplatz her die Brücke erreicht; indem Thielemann sich hilfesuchend umschaute, nahmen seine Züge den Ausdruck des Schreckens an; er sah Etzel mitten auf dem Fahrdamm geistesabwesend auf ein ratterndes Lastauto zugehen, das ihn in den nächsten Sekunden niedergeworfen haben mußte. Er schrie aus vollem Halse: „Paß auf, Andergast, zum Teufel, paß auf!“, war mit einem Sprung bei dem Gefährdeten und riß ihn so rechtzeitig noch zurück, daß das Schutzblech des Wagens nur seine Hüfte streifte.
Bei dem Namensruf, Andergast, wandte sich ein Mann, der am Geländer der Brücke stand und die Pfeife zwischen den Lippen auf den Strom hinunterschaute, als sehe und höre er nicht, was neben und hinter ihm vorging, mit jähem Ruck um, musterte die Gruppe der Knaben, faßte Etzel scharf ins Auge, und als Thielemann seinen Arm in den Etzels schob und halb ärgerlich, halb befehlend sagte: „Marsch, Andergast, lassen wir die Lumpenkerle“, folgte er den beiden in die Neue Mainzer Straße und hielt sich in einem Abstand von etwa zwanzig Schritten hinter ihnen. Erst am Opernplatz, als sie vor der Auslage einer Buchhandlung stehenblieben, überholte er sie, wartete, bis sie ihren Weg fortsetzten, und schaute Etzel wieder wie auf der Brücke mit dem bohrenden, glitzernden, dabei ruhigen und gedankenvollen Blick an. „Kennst du den?“fragte Thielemann verwundert, während sie weitergingen. Etzel verneinte und hatte eine unbehagliche Empfindung im Rücken.
Zwei Tage darauf stand der Mann vor dem Eingangstor des Gymnasiums. Es war mittags um zwölf, die Klassen strömten aus der Halle, zerteilten sich unter betäubendem Stimmenlärm nach allen Seiten; Etzel befand sich unter den Nachzüglern, sein erster Blick, als er ins Freie trat, fiel auf den Mann mit der Kapitänsmütze, er rundete groß die Augen, er stutzte. Der Mann sah ihn an, ohne zu lächeln, ohne eine Miene zu verziehen, und ging dann hinter ihm her. Da sich wieder das unbehagliche Gefühl im Rücken einstellte, stärker noch als vorgestern, schob er den Bücherpack tiefer in die Achsel und setzte sich in einen Trab, der den unbekannten Verfolger nach fünf Minuten einen Kilometer weit zurückließ.
Das dritte Mal stand er vor dem Andergastschen Hause, an der Ecke der Lindenstraße, als Etzel mit Heinz Ellmers von der Turnstunde kam. Dieser Ellmers, Sohn eines Baumeisters, ein vorzüglicher Mathematiker, hatte sich erbötig gemacht, Etzel bei einer algebraischen Hausaufgabe zu helfen, vor der er den ganzen gestrigen Abend ratlos gesessen hatte. Eigentlich mochte er Ellmers nicht leiden, der ein Großmaul und Streber war und vor einigen Monaten wegen einer nicht recht klargewordenen Denunziationsgeschichte beinahe von der gesamten Klasse boykottiert worden wäre. Ellmers hatte aber Etzel seinen Beistand so bieder dringend angetragen – es lockte ihn wohl, sagen zu können, er verkehre beim Baron Andergast –, daß Etzel keinen Grund sah, den Spröden zu spielen. Diesmal erschrak Etzel, als er den Mann mit der Kapitänsmütze erblickte. Es war die Wiederholung, die etwas Drohendes hatte und ein Gefühl der Unausweichlichkeit beschwor. Es war die größere Nähe des Menschen, es war die Einsamkeit der stillen Straße; das alles im Verein rief Schrecken hervor. Seine Kurzsichtigkeit hatte ihn bisher gehindert, die Züge des Fremden und die Einzelheiten seiner Erscheinung genau wahrzunehmen; jetzt stand der Mann so dicht vor ihm, daß er das gelbliche Grau der Augen, sogar die abgeschabten Stoffknöpfe des Pelzrocks sehen konnte. Als er von der Straße in den Vorgarten bog – Ellmers folgte ihm auf dem Fuß –, stand der Hausmeister mit einem Schutzmann plaudernd unterm Tor. Der Hausmeister grüßte; auch der Schutzmann, sich dem Sohn des Oberstaatsanwalts gegenüber wissend, salutierte. Etzel verspürte ein Schwindelgefühl, als er bemerkte, daß der Mann mit der Kapitänsmütze ebenfalls Anstalten traf, ins Haus zu gehen. Wahrscheinlich rechnete er darauf, unangefochten an dem Hausmeister vorbeizukommen und lästigen Fragen zu entgehen, wenn er sich den beiden Knaben an die Fersen heftete; man konnte ihm diese Überlegung vom Gesicht ablesen. Es gelang ihm auch; der Hausmeister warf zwar einen argwöhnischen Blick auf ihn, ließ ihn aber passieren. Im Flur blieb er dann stehen und schaute den Knaben nach. Der zusammengeschnallte Bücherpack entfiel Etzel. Ellmers hob ihn auf. „Danke“, sagte Etzel. Er lauschte angestrengt; je höher sie gegen den zweiten Stock kamen, je angestrengter lauschte er. Ein paar Stufen nach dem ersten Stock drehte er sich um und horchte hinunter. Ellmers schaute Etzel besorgt ins Gesicht und fragte: „Fehlt dir was, Andergast! Du bist ja so bleich.“Etzel lauschte und flüsterte: „Kommt er?“Der andere, erstaunt: „Wer? wen meinst du?“Etzel hielt sich am Stiegengeländer fest. Er hörte tappende Schritte heraufkommen. Was für ein Mensch mag das sein, daß er sich so hartnäckig an einen klammert? dachte Etzel, und die hartnäckige Verfolgung des Unbekannten flößte ihm immer stärkere Furcht ein.
Heinz Ellmers aber empfindet gerade in diesem Moment, mit einer Schärfe wie nie zuvor, daß er Etzel von Grund aus unsympathisch ist, und er schaut düster und etwas feindselig zu dem um zwei Stufen höher stehenden Etzel hinauf, der wieder seinerseits, mit einer neuen Spannung in den Zügen, in die Höhe blickt, denn er hört auch von oben Schritte herunterkommen, Schritte, die ihm vertraut sind. Nach einer Weile zeigt sich Herrn von Andergasts schlanke Gestalt im Fensterviereck. Eben biegt er um die Ecke der Stiege; unten biegt der Mann mit der Kapitänsmütze um die Ecke der Stiege.