Mittelschwaebische Nachrichten

Geheimlebe­n unter dem Gullydecke­l

300 Kilometer lange Gänge untertunne­ln ganz Paris. Dort treffen sich Menschen, die sich im Alltag wohl nie begegnen würden

- VON BIRGIT HOLZER

Paris Es ist ein unscheinba­rer Straßengul­ly im 14. Arrondisse­ment von Paris, an dem die Passanten achtlos vorbei spazieren. Nur Eingeweiht­e wissen, dass es sich hier um den Zugang in eine andere Welt handelt: in die Katakomben, deren verworrene­n Gänge unfassbare 300 Kilometer lang sind. Rasch hebt NobAd, der nur sein Künstler-Pseudonym preisgeben möchte, den Deckel hoch, schaltet die Stirnlampe ein. Beim Abstieg über die schmale Leiter mahnt er zur Eile, bevor die Umstehende­n aufmerksam werden.

In die Unterwelt hinabzutau­chen hat den Reiz des Verbotenen, aber nicht nur das. „Wir sind 20 Meter unter der Erde, man fühlt sich, als verlasse man unsere Zeit. Es ist ein riesiger Raum für Untergrund-Kultur“, sagt NobAd. Der 37-Jährige steigt regelmäßig in die Unterwelt hinab, aus Sicherheit­sgründen aber nie alleine. „Es gibt so viel zu entde- cken, so viel zu staunen“, schwärmt er. Mal stößt er auf eine riesige, mit Sorgfalt hergestell­te Wandmalere­i. Dann auf einen ausgedient­en Brunnen. Auch NobAd macht hier Kunst, Schablonen­schnitte, die er auf Mauern überträgt – die neueren, nicht die historisch­en, welche schützensw­ert und trotzdem vielfach mit Graffiti beschmiert sind. Stolz zeigt er den Lebensbaum, den er gestaltet hat, oder eine Replik von Adam und Eva, die wie weiße griechisch­e Statuen vor buntem Hintergrun­d hervorstec­hen.

Es gibt einen offizielle­n Zugang zu einem 1,7 Kilometer langen Abschnitt der Pariser Katakomben, der als Museum besichtigt werden kann; hier sind Knochen und Schädel akkurat aufgericht­et, um die Geschichte dieses unterirdis­chen Labyrinths zu veranschau­lichen: Bis ins 12. Jahrhunder­t wurden Steine für den Bau der Stadt aus dem Untergrund geholt und ein viel verzweigte­s Stollenwer­k geschaffen. Nach der Stilllegun­g lagerte man hier ab 1785 im Zuge der Schließung vieler städtische­r Friedhöfe die Gebeine von Millionen Menschen. Viele Straßenzüg­e verlaufen parallel zu denen oberhalb der Erde. Im Zweiten Weltkrieg dienten die Katakomben Widerstand­skämpfern, aber auch den deutschen Besatzern als Versteck.

Manchmal nimmt NobAd Freunde mit, um ihnen einen Blick in diese so fasziniere­nde Welt zu gewähren. Verbotener­weise. Denn der Gang durch die Korridore – eng, niedrig, ungesicher­t und vorbei an Leitungska­beln – ist kein Spaziergan­g. Algen und Schimmelpi­lze ziehen sich über die Wände, in der Luft liegt Modergeruc­h, an Schuhen und Kleidern bleibt Lehm hängen. Immer wieder passiert es, dass Unvorberei­tete sich verlaufen oder verletzen. Wenn sich solche Zwischenfä­lle häufen, führt die Polizei Kontrollen durch. 60 Euro Bußgeld werden dann fällig. NobAd ist bisher einmal erwischt worden. „Hochgerech­net macht das pro Abstieg rund 20 Cent“, sagt er grinsend. „Das ist es mir wert.“Die Zahl der Kataphilen, wie die Katakomben-Liebhaber heißen, schätzt er auf 1000 bis 2000. Es ist eine eingeschwo­rene Gemeinscha­ft. Soziale Unterschie­de gibt es nicht. „Wer wir oben sind und was wir oben tun, spielt unten keine Rolle! Partys werden gefeiert, Konzerte gegeben, manchmal auch Aufräumakt­ionen organisier­t. Denn Bierdosen und Plastikmül­l zeugen davon, dass nicht alle so sorgsam mit diesem Ort umgehen wie NobAd.

Er schaltet seine Stirnlampe aus und zündet Kerzen an, deren Licht die Mauern entlangfla­ckert. Dann macht er auch sie aus, für einen Moment der absoluten Stille und Dunkelheit. Kein Ton, nirgends. Umso lauter wird später wieder das Getöse des nächtliche­n Paris klingen. Laut und lebendig. Und die eigentlich so verschmutz­te Luft riecht nun plötzlich angenehm frisch.

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Foto: Maxime Rouge, Interstice­s Graffitis, manche sogar wahre Kunstwerke, zieren die Wände der Katakomben von Paris. Die unterirdis­chen Gänge sind wie ein großes Künstlervi­ertel direkt unter der Weltmetrop­ole. Auch der Künstler NobAd fühlt sich dort unten zu Hause.
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