Mittelschwaebische Nachrichten
Schatten über dem Kanusport
Als der Bundestrainer ihr die Hand auf den Oberschenkel legt, schweigt Julia. Bis auch andere junge Kanutinnen von Anzüglichkeiten berichten. Und klar wird: Es ist wohl noch viel Schlimmeres passiert. Nun steht Thomas K. in Sachsen vor Gericht. Eine Schla
Augsburg/Leipzig
Es war der Moment, der sie geschockt hat. Ein Erlebnis, das ihr die Augen öffnete. Thomas K. saß am Steuer, Julia T.* neben ihm auf dem Beifahrersitz. Da, sagt sie, hat der KanuslalomTrainer seine Hand auf ihren Oberschenkel gelegt. Die Kanutin war damals 17 Jahre alt, absolvierte mit dem deutschen Juniorenteam gerade einen Wettkampf. Heute, vier Jahre später, sitzt sie in einem Augsburger Café, erzählt ihre Geschichte und schüttelt dabei den Kopf. „Mir ging das komplett zu weit. Aber ich habe kein Wort rausbekommen.“Dabei, sagt sie, „hätte ich ihm liebend gern eine geknallt“.
Julia versteht selbst nicht, warum sie damals so erstarrt war. Doch nun, während ihr Tee kalt wird, sprudeln die Worte nur so aus ihr heraus. Sie sagt, dass sie nicht einmal ihren Eltern davon erzählt habe. Dass sie nur am Abend mit ihrer Zimmernachbarin darüber geredet hat. Erst später hat sie festgestellt, dass es anderen Kanutinnen aus den deutschen Nachwuchsteams ebenso ergangen war.
Man kann sicher darüber diskutieren, wie nah ein Trainer und eine Sportlerin sich kommen dürfen. Ob es noch okay ist, dass der 46-Jährige seinen minderjährigen Athletinnen Kosenamen gab. Ganz bestimmt aber war es nicht in Ordnung, wenn er, wie bei Julia, die Hand auf den Oberschenkel legte. Oder wenn er einem der Mädchen „aus Spaß“den Bikini geöffnet haben soll. Irgendwann soll der Trainer sogar körperlich zudringlich geworden sein: Als er eine Athletin küsste, ihre Hand an sein Geschlechtsteil führte und sie auszog, als er sie auf einen Tisch drückte und dann noch mehr versuchte.
Mit diesem Fall beschäftigt sich nun das Amtsgericht Borna. Seit 5. Dezember steht Thomas K. in der Stadt nahe Leipzig vor Gericht. Die Anklage wirft ihm sexuellen Missbrauch von Schutzbefohlenen und Vergewaltigung vor. Das mutmaßliche Opfer, eine erfolgreiche Slalomkanutin aus Leipzig, war zum Tatzeitpunkt erst 15 Jahre alt. Der Trainer, der damals beim Deutschen Kanu-Verband (DKV) beschäftigt war und vor einem Jahr entlassen wurde, bestreitet die Taten vehement. Beim Lesen der Anklage sei ihm schlecht geworden, sagt der 46-Jährige vor Gericht. „Das ist ein absolutes ,No-Go‘ als Trainer. Es gab nie mehr Kontakt als eine Umarmung.“
Trotzdem liegt seit den Vorwürfen gegen den früheren NachwuchsBundestrainer ein Schatten über dem Kanuslalomsport. Und damit auch über Augsburg, wo, wie in Leipzig, ein bedeutendes Leistungszentren steht. Und da in den Nationalmannschaften immer die besten deutschen Nachwuchskanuten und -kanutinnen zusammengezogen werden, waren auch junge Sportlerinnen aus Augsburg mit Thomas K. auf Lehrgängen und Wettkämpfen unterwegs.
Fast alle haben irgendwann mal anzügliche Bemerkungen bekommen, wenn sie mit Thomas K. allein waren. Einmal habe er einer Athletin angeboten, dass er zusieht, wie sie eine Gurke wäscht, sagt Julia. „Man weiß ja gar nicht, wie man auf diese Kommentare mit sexuellen Andeutungen reagieren soll.“
Irgendwann finden die Sportlerinnen einen Weg. Als intern immer mehr Vorfälle bekannt werden, gründen die Kanutinnen eine ChatGruppe. 13 Mädchen – damals alle zwischen 14 und 17 Jahre alt – tauschen sich aus. Und sie sind geschockt, als ihnen klar wird, dass Teamkameradinnen nicht nur belästigt, sondern teils auch sexuell missbraucht wurden. „Mir ist ja so gesehen nichts wirklich Schlimmes passiert und mir geht es trotzdem schon so schlecht dabei“, sagt Julia. „Da möchte ich mir gar nicht vorstellen, wie sich die anderen fühlen.“Ihre Stimme wird brüchig. Sie blinzelt die aufsteigenden Tränen weg.
2017 wird der Fall öffentlich – auch, weil sich ein Dutzend deutscher Nachwuchskanutinnen zusammenschließt und einen anonymen Brief an den DKV schickt. Ei- Athletinnen hatten zuvor bei der Polizei ausgesagt und damit Ermittlungen ins Rollen gebracht. Der Fall der Slalomkanutin aus Leipzig, die ihm Vergewaltigung vorwirft, ist der schwerwiegendste.
Nein, es geht in diesen Fall nicht um ein neues Beispiel der #MeTooDebatte, die amerikanische Schauspielerinnen vor gut einem Jahr ins Rollen gebracht haben. Zwar sind die Muster im Schauspielgeschäft ähnlich wie im Leistungssport: Hier ein einflussreicher Mann, der an einer Schaltstelle sitzt, dort eine junge Frau, die etwas erreichen will. Und doch liegen mutmaßliche Missbrauchsfälle wie der des Leipziger Trainers anders: Es geht um sexuelle Übergriffe auf Jugendliche. Um Eltern, die einem Trainer ihre minderjährigen Kinder während internationaler Lehrgänge und Wettkämpfe anvertrauen – in der Überzeugung, dass sie in seiner Obhut sicher und geschützt wären.
Und doch gibt es diese Fälle im Sport immer wieder. Im Januar 2018 machten etwa US-Turnerinnen den jahrzehntelangen Missbrauch durch ihren Teamarzt öffentlich. Er hatte seine medizinischen Behandlungen für sexuelle Übergriffe an mehr als 250 jungen Frauen genutzt. Mitunter waren die Opfer erst zwölf Jahre alt. Der Arzt ist in drei Prozessen zu mehreren hundert Jahren Gefängnis verurteilt worden. Vergangene Woche dann die Nachricht von der afghanischen Fußball-Nationalmannschaft: Verbandsvertreter sollen Spielerinnen sexuell missbraucht und körperlich misshandelt haben. Auch hier folgten die Dementis schnell. Der Generalsekretär des nationalen Fußballverbandes bezeichnete die Vorwürfe als unwahre Unterstellungen. Der Fußballweltverband Fifa hat Untersuchungen eingeleitet.
Sexuelle Gewalt kommt im Sport nicht häufiger vor als in anderen Bereichen der Gesellschaft – aber auch nicht seltener. Das haben Wissenschaftler der Deutschen Sporthochschule Köln und der Universität Ulm in einer Studie festgestellt. Klar ist aber auch: Frauen und Mädchen werden häufiger zum Opfer.
Die Suche nach der Wahrheit ist in diesen Fällen schwierig. Die mutmaßlichen Opfer kostet sie Überwindung. Fünf Augsburger Kanutinnen wurden zum ersten Prozesstag geladen. Das Gericht erhoffte sich durch ihre Aussagen, mehr über die Persönlichkeit des ehemaligen Nationalmannschaftstrainers zu erfahren. Schließlich waren die Athletinnen mit ihm auf Lehrgängen und auch bei der Junioren-Weltmeisterschaft in Brasilien unterwegs. Sie hätten ihn als einen Mann erlebt, der gerne die Nähe zu seinen Athletinnen suchte. Julia sagt: „Jeder hat gewusst, dass sein Verhalten nicht normal und akzeptabel ist. Es gab immer wieder Gespräche. Aber keinige nem war wohl das ganze Ausmaß bewusst.“
Lange haben Julia und die anderen Kanutinnen überlegt, ob sie den Schritt in die Öffentlichkeit gehen und sich den unangenehmen Befragungen vor Gericht aussetzen sollen. Letztlich aber überwog der Wunsch, dass der Trainer für seine Taten bestraft wird, und die Hoffnung, dass dadurch andere junge Sportlerinnen vor ihm geschützt werden. „Wir haben sogar schon Pläne geschmiedet, wie wir im nächsten Trainingslager auf jüngere Sportlerinnen aufpassen werden. Doch bevor das losging, war er schon weg.“
Warum sie sich nicht eher gemeldet hätten, werden die Kanutinnen nun gefragt. Das haben sie, versichern die jungen Frauen. Allerdings nur intern. Nach außen hin erschienen ihnen die Vorfälle anfangs zu harmlos. Erst als immer mehr Vorwürfe dazukamen, blieb ihnen keine andere Wahl mehr. „Unsere Mädchen sind vom Kindergarten an dazu erzogen worden, stark zu sein, aufzustehen und gegen solche Übergriffe anzugehen. Aber wenn es so weit ist, wird es ihnen schwer gemacht“, sagt eine Mutter.
Denn die Kanutinnen stoßen nicht überall auf Verständnis. Es kursieren anonyme Briefe, in denen vor allem die Augsburgerinnen als eine Art Rädelsführerinnen bezeichnet werden. Da wird von Intrigen unter den Sportlerinnen gesprochen. Und von der Konkurrenz unter den Trainern der Leistungszentren in Leipzig und Augsburg. Es werden Andeutungen gemacht, dass es um Postenschacherei gehe und man sich durch die Vorwürfe eines unangenehmen Trainers entledigen könne. „Eine Schlammschlacht“, sagt ein Insider. Die Augsburger Sportlerinnen sind fassungslos: „Da werden wir auch noch als Lügnerinnen hingestellt.“
Eine unrühmliche Figur macht in diesem Fall der Deutsche KanuVerband. Dort sah man sich erst zum Handeln gezwungen, als die polizeilichen Aussagen der Sportlerinnen gegen Thomas K. vorlagen. Im Juni 2017 wurde er suspendiert, einen Monat später dann entlassen. Beim DKV möchte man „nun besser aufpassen“, wie der Vorsitzende Thomas Konietzko versichert. „Wir müssen alle Trainer und Betreuer noch besser sensibilisieren, möglichst frühzeitig Signale, die auf einen Missbrauch hindeuten, ernst zu nehmen und sofort zu reagieren.“
Trotzdem war wohl allen Beteiligten die Tragweite des Falls nicht bewusst. Das zeigt der erste Prozesstag in Borna: Weder die Athletin aus Leipzig noch die Augsburgerinnen haben vom Verband einen Anwalt zur Seite gestellt bekommen, es wurde kein Antrag auf Ausschluss der Öffentlichkeit gestellt.
Unvorbereitet und ausgeliefert hätten sie sich bei der hartnäckigen Befragung durch die Verteidigung gefühlt, sagen die Sportlerinnen. Sie fürchten nun, dass der Trainer freigesprochen werden könnte, weil sie vor Gericht nicht überzeugend genug wirkten. Die Details bei einer Tasse Tee zu erzählen, sei doch etwas ganz anderes als im Zeugenstand, sagt Julia. „Ich bin in Tränen ausgebrochen und konnte die Sachen gar nicht so erzählen, wie ich eigentlich wollte. Ich will ihn ja auch nicht ins Gefängnis bringen“, sagt sie, „ich möchte nur, dass er für das bestraft wird, was er gemacht hat.“
Julia hat sich nun selbst einen Anwalt gesucht. Die Leipziger Athletin hat inzwischen über den Verband einen juristischen Beistand bekommen. „Wir waren selbst überrascht, dass sich die Sportlerinnen keinen Anwalt genommen haben. Als Verband haben wir uns aus dem Prozess herausgehalten, denn wir hatten ja beide Seiten zu beachten“, erklärt DKV-Präsident Konietzko auf Nachfrage.
Sieht das Gericht die Vorwürfe als erwiesen an, könnte dem ehemaligen Juniorentrainer eine Haftstrafe drohen. Das mögliche Strafmaß wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen liegt zwischen drei Monaten und fünf Jahren. Sollte er wegen Vergewaltigung verurteilt werden, droht ihm eine mehrjährige Haftstrafe. Heute geht der Prozess weiter. *Name geändert
Am liebsten, sagt sie, hätte sie ihm eine geknallt
Dass sein Verhalten nicht normal ist, hat man gewusst