Mittelschwaebische Nachrichten

Schatten über dem Kanusport

Als der Bundestrai­ner ihr die Hand auf den Oberschenk­el legt, schweigt Julia. Bis auch andere junge Kanutinnen von Anzüglichk­eiten berichten. Und klar wird: Es ist wohl noch viel Schlimmere­s passiert. Nun steht Thomas K. in Sachsen vor Gericht. Eine Schla

- VON ANDREA BOGENREUTH­ER

Augsburg/Leipzig

Es war der Moment, der sie geschockt hat. Ein Erlebnis, das ihr die Augen öffnete. Thomas K. saß am Steuer, Julia T.* neben ihm auf dem Beifahrers­itz. Da, sagt sie, hat der Kanuslalom­Trainer seine Hand auf ihren Oberschenk­el gelegt. Die Kanutin war damals 17 Jahre alt, absolviert­e mit dem deutschen Juniorente­am gerade einen Wettkampf. Heute, vier Jahre später, sitzt sie in einem Augsburger Café, erzählt ihre Geschichte und schüttelt dabei den Kopf. „Mir ging das komplett zu weit. Aber ich habe kein Wort rausbekomm­en.“Dabei, sagt sie, „hätte ich ihm liebend gern eine geknallt“.

Julia versteht selbst nicht, warum sie damals so erstarrt war. Doch nun, während ihr Tee kalt wird, sprudeln die Worte nur so aus ihr heraus. Sie sagt, dass sie nicht einmal ihren Eltern davon erzählt habe. Dass sie nur am Abend mit ihrer Zimmernach­barin darüber geredet hat. Erst später hat sie festgestel­lt, dass es anderen Kanutinnen aus den deutschen Nachwuchst­eams ebenso ergangen war.

Man kann sicher darüber diskutiere­n, wie nah ein Trainer und eine Sportlerin sich kommen dürfen. Ob es noch okay ist, dass der 46-Jährige seinen minderjähr­igen Athletinne­n Kosenamen gab. Ganz bestimmt aber war es nicht in Ordnung, wenn er, wie bei Julia, die Hand auf den Oberschenk­el legte. Oder wenn er einem der Mädchen „aus Spaß“den Bikini geöffnet haben soll. Irgendwann soll der Trainer sogar körperlich zudringlic­h geworden sein: Als er eine Athletin küsste, ihre Hand an sein Geschlecht­steil führte und sie auszog, als er sie auf einen Tisch drückte und dann noch mehr versuchte.

Mit diesem Fall beschäftig­t sich nun das Amtsgerich­t Borna. Seit 5. Dezember steht Thomas K. in der Stadt nahe Leipzig vor Gericht. Die Anklage wirft ihm sexuellen Missbrauch von Schutzbefo­hlenen und Vergewalti­gung vor. Das mutmaßlich­e Opfer, eine erfolgreic­he Slalomkanu­tin aus Leipzig, war zum Tatzeitpun­kt erst 15 Jahre alt. Der Trainer, der damals beim Deutschen Kanu-Verband (DKV) beschäftig­t war und vor einem Jahr entlassen wurde, bestreitet die Taten vehement. Beim Lesen der Anklage sei ihm schlecht geworden, sagt der 46-Jährige vor Gericht. „Das ist ein absolutes ,No-Go‘ als Trainer. Es gab nie mehr Kontakt als eine Umarmung.“

Trotzdem liegt seit den Vorwürfen gegen den früheren NachwuchsB­undestrain­er ein Schatten über dem Kanuslalom­sport. Und damit auch über Augsburg, wo, wie in Leipzig, ein bedeutende­s Leistungsz­entren steht. Und da in den Nationalma­nnschaften immer die besten deutschen Nachwuchsk­anuten und -kanutinnen zusammenge­zogen werden, waren auch junge Sportlerin­nen aus Augsburg mit Thomas K. auf Lehrgängen und Wettkämpfe­n unterwegs.

Fast alle haben irgendwann mal anzügliche Bemerkunge­n bekommen, wenn sie mit Thomas K. allein waren. Einmal habe er einer Athletin angeboten, dass er zusieht, wie sie eine Gurke wäscht, sagt Julia. „Man weiß ja gar nicht, wie man auf diese Kommentare mit sexuellen Andeutunge­n reagieren soll.“

Irgendwann finden die Sportlerin­nen einen Weg. Als intern immer mehr Vorfälle bekannt werden, gründen die Kanutinnen eine ChatGruppe. 13 Mädchen – damals alle zwischen 14 und 17 Jahre alt – tauschen sich aus. Und sie sind geschockt, als ihnen klar wird, dass Teamkamera­dinnen nicht nur belästigt, sondern teils auch sexuell missbrauch­t wurden. „Mir ist ja so gesehen nichts wirklich Schlimmes passiert und mir geht es trotzdem schon so schlecht dabei“, sagt Julia. „Da möchte ich mir gar nicht vorstellen, wie sich die anderen fühlen.“Ihre Stimme wird brüchig. Sie blinzelt die aufsteigen­den Tränen weg.

2017 wird der Fall öffentlich – auch, weil sich ein Dutzend deutscher Nachwuchsk­anutinnen zusammensc­hließt und einen anonymen Brief an den DKV schickt. Ei- Athletinne­n hatten zuvor bei der Polizei ausgesagt und damit Ermittlung­en ins Rollen gebracht. Der Fall der Slalomkanu­tin aus Leipzig, die ihm Vergewalti­gung vorwirft, ist der schwerwieg­endste.

Nein, es geht in diesen Fall nicht um ein neues Beispiel der #MeTooDebat­te, die amerikanis­che Schauspiel­erinnen vor gut einem Jahr ins Rollen gebracht haben. Zwar sind die Muster im Schauspiel­geschäft ähnlich wie im Leistungss­port: Hier ein einflussre­icher Mann, der an einer Schaltstel­le sitzt, dort eine junge Frau, die etwas erreichen will. Und doch liegen mutmaßlich­e Missbrauch­sfälle wie der des Leipziger Trainers anders: Es geht um sexuelle Übergriffe auf Jugendlich­e. Um Eltern, die einem Trainer ihre minderjähr­igen Kinder während internatio­naler Lehrgänge und Wettkämpfe anvertraue­n – in der Überzeugun­g, dass sie in seiner Obhut sicher und geschützt wären.

Und doch gibt es diese Fälle im Sport immer wieder. Im Januar 2018 machten etwa US-Turnerinne­n den jahrzehnte­langen Missbrauch durch ihren Teamarzt öffentlich. Er hatte seine medizinisc­hen Behandlung­en für sexuelle Übergriffe an mehr als 250 jungen Frauen genutzt. Mitunter waren die Opfer erst zwölf Jahre alt. Der Arzt ist in drei Prozessen zu mehreren hundert Jahren Gefängnis verurteilt worden. Vergangene Woche dann die Nachricht von der afghanisch­en Fußball-Nationalma­nnschaft: Verbandsve­rtreter sollen Spielerinn­en sexuell missbrauch­t und körperlich misshandel­t haben. Auch hier folgten die Dementis schnell. Der Generalsek­retär des nationalen Fußballver­bandes bezeichnet­e die Vorwürfe als unwahre Unterstell­ungen. Der Fußballwel­tverband Fifa hat Untersuchu­ngen eingeleite­t.

Sexuelle Gewalt kommt im Sport nicht häufiger vor als in anderen Bereichen der Gesellscha­ft – aber auch nicht seltener. Das haben Wissenscha­ftler der Deutschen Sporthochs­chule Köln und der Universitä­t Ulm in einer Studie festgestel­lt. Klar ist aber auch: Frauen und Mädchen werden häufiger zum Opfer.

Die Suche nach der Wahrheit ist in diesen Fällen schwierig. Die mutmaßlich­en Opfer kostet sie Überwindun­g. Fünf Augsburger Kanutinnen wurden zum ersten Prozesstag geladen. Das Gericht erhoffte sich durch ihre Aussagen, mehr über die Persönlich­keit des ehemaligen Nationalma­nnschaftst­rainers zu erfahren. Schließlic­h waren die Athletinne­n mit ihm auf Lehrgängen und auch bei der Junioren-Weltmeiste­rschaft in Brasilien unterwegs. Sie hätten ihn als einen Mann erlebt, der gerne die Nähe zu seinen Athletinne­n suchte. Julia sagt: „Jeder hat gewusst, dass sein Verhalten nicht normal und akzeptabel ist. Es gab immer wieder Gespräche. Aber keinige nem war wohl das ganze Ausmaß bewusst.“

Lange haben Julia und die anderen Kanutinnen überlegt, ob sie den Schritt in die Öffentlich­keit gehen und sich den unangenehm­en Befragunge­n vor Gericht aussetzen sollen. Letztlich aber überwog der Wunsch, dass der Trainer für seine Taten bestraft wird, und die Hoffnung, dass dadurch andere junge Sportlerin­nen vor ihm geschützt werden. „Wir haben sogar schon Pläne geschmiede­t, wie wir im nächsten Trainingsl­ager auf jüngere Sportlerin­nen aufpassen werden. Doch bevor das losging, war er schon weg.“

Warum sie sich nicht eher gemeldet hätten, werden die Kanutinnen nun gefragt. Das haben sie, versichern die jungen Frauen. Allerdings nur intern. Nach außen hin erschienen ihnen die Vorfälle anfangs zu harmlos. Erst als immer mehr Vorwürfe dazukamen, blieb ihnen keine andere Wahl mehr. „Unsere Mädchen sind vom Kindergart­en an dazu erzogen worden, stark zu sein, aufzustehe­n und gegen solche Übergriffe anzugehen. Aber wenn es so weit ist, wird es ihnen schwer gemacht“, sagt eine Mutter.

Denn die Kanutinnen stoßen nicht überall auf Verständni­s. Es kursieren anonyme Briefe, in denen vor allem die Augsburger­innen als eine Art Rädelsführ­erinnen bezeichnet werden. Da wird von Intrigen unter den Sportlerin­nen gesprochen. Und von der Konkurrenz unter den Trainern der Leistungsz­entren in Leipzig und Augsburg. Es werden Andeutunge­n gemacht, dass es um Postenscha­cherei gehe und man sich durch die Vorwürfe eines unangenehm­en Trainers entledigen könne. „Eine Schlammsch­lacht“, sagt ein Insider. Die Augsburger Sportlerin­nen sind fassungslo­s: „Da werden wir auch noch als Lügnerinne­n hingestell­t.“

Eine unrühmlich­e Figur macht in diesem Fall der Deutsche KanuVerban­d. Dort sah man sich erst zum Handeln gezwungen, als die polizeilic­hen Aussagen der Sportlerin­nen gegen Thomas K. vorlagen. Im Juni 2017 wurde er suspendier­t, einen Monat später dann entlassen. Beim DKV möchte man „nun besser aufpassen“, wie der Vorsitzend­e Thomas Konietzko versichert. „Wir müssen alle Trainer und Betreuer noch besser sensibilis­ieren, möglichst frühzeitig Signale, die auf einen Missbrauch hindeuten, ernst zu nehmen und sofort zu reagieren.“

Trotzdem war wohl allen Beteiligte­n die Tragweite des Falls nicht bewusst. Das zeigt der erste Prozesstag in Borna: Weder die Athletin aus Leipzig noch die Augsburger­innen haben vom Verband einen Anwalt zur Seite gestellt bekommen, es wurde kein Antrag auf Ausschluss der Öffentlich­keit gestellt.

Unvorberei­tet und ausgeliefe­rt hätten sie sich bei der hartnäckig­en Befragung durch die Verteidigu­ng gefühlt, sagen die Sportlerin­nen. Sie fürchten nun, dass der Trainer freigespro­chen werden könnte, weil sie vor Gericht nicht überzeugen­d genug wirkten. Die Details bei einer Tasse Tee zu erzählen, sei doch etwas ganz anderes als im Zeugenstan­d, sagt Julia. „Ich bin in Tränen ausgebroch­en und konnte die Sachen gar nicht so erzählen, wie ich eigentlich wollte. Ich will ihn ja auch nicht ins Gefängnis bringen“, sagt sie, „ich möchte nur, dass er für das bestraft wird, was er gemacht hat.“

Julia hat sich nun selbst einen Anwalt gesucht. Die Leipziger Athletin hat inzwischen über den Verband einen juristisch­en Beistand bekommen. „Wir waren selbst überrascht, dass sich die Sportlerin­nen keinen Anwalt genommen haben. Als Verband haben wir uns aus dem Prozess herausgeha­lten, denn wir hatten ja beide Seiten zu beachten“, erklärt DKV-Präsident Konietzko auf Nachfrage.

Sieht das Gericht die Vorwürfe als erwiesen an, könnte dem ehemaligen Juniorentr­ainer eine Haftstrafe drohen. Das mögliche Strafmaß wegen sexuellen Missbrauch­s von Schutzbefo­hlenen liegt zwischen drei Monaten und fünf Jahren. Sollte er wegen Vergewalti­gung verurteilt werden, droht ihm eine mehrjährig­e Haftstrafe. Heute geht der Prozess weiter. *Name geändert

Am liebsten, sagt sie, hätte sie ihm eine geknallt

Dass sein Verhalten nicht normal ist, hat man gewusst

 ?? Symbolfoto: Ulrich Wagner ?? In Augsburg trainieren viele Kanu-Nachwuchsh­offnungen. Junge Sportlerin­nen aus Augsburg hatten regelmäßig mit Thomas K. zu tun. Der 46-Jährige steht nun wegen sexuellen Missbrauch­s und Vergewalti­gung vor Gericht.
Symbolfoto: Ulrich Wagner In Augsburg trainieren viele Kanu-Nachwuchsh­offnungen. Junge Sportlerin­nen aus Augsburg hatten regelmäßig mit Thomas K. zu tun. Der 46-Jährige steht nun wegen sexuellen Missbrauch­s und Vergewalti­gung vor Gericht.

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