Mittelschwaebische Nachrichten
„Der größte anzunehmende Unfall“
Vereinzelte Sündenfälle von Reportern gibt es immer wieder. Ein Experte erklärt, was die Betrüger motiviert
Mike Tyson philosophierte mit ihm über Nietzsche. Courtney Love verriet ihm, warum sie sich bei Bühnenauftritten immer an die Brüste fasse. Und Sharon Stone ließ ihn angeblich sogar in ihren Schritt schauen. Tom Kummer war in den späten 90er Jahren so etwas wie der Kokosnuss-Knacker von Hollywood, der maßgeschneiderte Popjournalist für krawallige Chefredakteure wie Ulf Poschardt vom SZ-Magazin. Was Kummer aus Los Angeles den Redaktionen schickte, war intim, exklusiv, unterhaltsam. Nur leider eben auch erstunken und erlogen.
Im Jahr 2000 enthüllte der Focus: Einige von Kummers Gesprächen haben nie stattgefunden. Den Schweizer kostete das die Karriere, Poschardt – heute Welt-Chef – seinen Job bei der Süddeutschen. Kummer erzählte dann etwas weltfremd und euphemistisch von „Konzeptkunst“ und „Borderline-Journalismus“, einer „Implosion des Realen“. Was er meinte, war aber schlichtweg: Betrug.
Nun also der Fall Relotius beim Spiegel, „der größte anzunehmende Unfall für den Journalismus“, wie es Klaus Meier, Journalistik-Professor an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, nennt. Solche Skandale hat es immer wieder gegeben: Reporter, die Protagonisten fingierten, die Szenen hinzudichteten, die vorgaben, an Orten gewesen zu sein, die sie tatsächlich nie mit eigenen Augen gesehen hatten.
Reporter auch, die – geht es nach Professor Meier – natürlich der Glaubwürdigkeit des Journalismus schaden: „So wie eine Redaktion ihrem Reporter, so muss auch der Leser seiner Zeitung vertrauen können.“Doch im aktuellen Fall sieht Meier eine Chance: „Wenn Dinge selbst schonungslos aufgedeckt und publik gemacht werden, kann das einen Imagegewinn bedeuten.“Der Spiegel hat das getan. 6321 Wörter schmerzhafter Ehrlichkeit.
Claas Relotius war CNN-„Journalist of the Year“. Er gewann viermal den Deutschen Reporterpreis. Die Trophäen hat er am Donnerstag zurückgegeben. Doch immer wieder werden unsaubere Geschichten ausgezeichnet.
Für ein Porträt von Horst Seehofer bekam René Pfister, damals Korrespondent beim Spiegel, heute Leiter des Hauptstadtbüros, 2011 den Henri-Nannen-Preis. Im Text schilderte er Seehofers legendäre Modelleisenbahnwelt: Die Märklin HO, Maßstab 1:87. Der Nachbau des Bonner Bahnhofs. Eine MiniMerkel. Alles richtig, wie Seehofer später sagte. Doch Pfister war nie selbst in Seehofers Keller. Er musste die Trophäe abgeben, weil er die Szene lediglich aus Erzählungen rekonstruierte, ohne das im Artikel kenntlich zu machen. In deutschen Journalistenschmieden wird so etwas heute „pfistern“genannt.
„Wir haben ein Branchenproblem“, sagt Meier. „Wir wollen die tollsten Geschichten, die letztlich nur erfunden sein können, weil sie literarisch so gut sind, so packend, so erzählerisch dicht. Da wird enormer Druck aufgebaut.“
Selbst Heribert Prantl, Edelfeder und Leitartikler der Süddeutschen, verfiel dem Zwang, szenisch schreiben zu müssen: In einem Porträt über Andreas Voßkuhle, Präsident des Bundesverfassungsgerichts, pfisterte Prantl: „Bei Voßkuhles setzt man sich nicht an die gedeckte Tafel und wartet, was aufgetragen wird. […] Der Gast putzt die Pilze, der andere die Bohnen, der dritte wäscht den Salat.“Prantl ließ sich das nur von Teilnehmern der illustren Runde berichten. Die Sache flog auf, Prantl brach seinen Urlaub ab, die SZ druckte eine Klarstellung. Es blieb eine einmalige Sache.
Von Tom Kummer kann man das nicht behaupten. 2004 hatte er seinen ersten Comebackversuch in der Berliner Zeitung, eine Reportage über Autokünstler in Los Angeles. Sie war bereits 1998 in der Neuen Zürcher Zeitung und 1999 in der SZ erschienen. Kummer hatte noch nicht einmal das Alter seiner Protagonisten aktualisiert. Seit Donald Trump im Januar 2017 sein Amt als Präsident angetreten hat, sind die USA das Land der „Fake News“geworden. Es sind nicht die Medien, die Falschnachrichten verbreiten. Es ist in vielen Fällen Trump selbst. Die Zeitungen übernehmen die Rolle des Korrektivs, das Trumps Lügen entlarvt. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, haben die Medien dort eine Vielzahl an Vorkehrungen getroffen, die eine journalistisch und nachrichtlich einwandfreie Berichterstattung gewährleisten sollen.
Die New York Times (NYT) ist besonders vorsichtig – vor allem, seit ihr Reporter Jayson Blair Anfang des Jahrtausends mit dutzenden gefälschten Geschichten die Reputation des Hauses aufs Schwerste erschüttert hatte. Der 33-jährige Claas Relotius schien sich Blair zum Vorbild genommen haben. Während sich der Amerikaner nach seinem Rücktritt in eine Nervenklinik einweisen ließ, nimmt auch Relotius für sich in Anspruch, krank zu sein.
Times-Verleger Arthur Sulzberger sprach damals von einem „riesigen schwarzen Auge“, drang auf zusätzliche Sicherungen. Artikel durchlaufen heute mehrere interne Instanzen, in denen Redakteure brisante Inhalte verifizieren. Parallel installierte die NYT einen Leseranwalt, der ein wachsames Auge auf Inhalte hielt. Der Ombudsmann, auf den auch andere US-Medienhäuser schwören, war als Scharnier zwischen Redaktion und Leserschaft gedacht und sollte sicherstellen, dass es einen Rückkanal gab, der zu einer schnelleren Aufdeckung von fabrizierten Geschichten beitragen konnte. 2017 stellte die Times die Position des „Public Editors“ein. Der heutige Chefredakteur Dean Baquet rechtfertigte das mit der veränderten Mediensituation. Probleme wie mit Blair würden in Zeiten von Twitter und Blogging sehr schnell entdeckt werden. „Die Welt ist besser geworden, uns zu überprüfen.“Aber es sei arrogant zu sagen, „so etwas könnte nie wieder passieren“.
Als Alternative schuf die Times ein „Leserzentrum“, an das sich Interessierte mit „Feedback, Fragen, Sorgen, Beschwerden und anderen Anfragen“wenden können. Mit der Ankunft Trumps im Weißen Haus führte das Blatt in seinem Washingtoner Büro die formale Position eines Faktencheckers ein – nicht nur für die Aussagen des Präsidenten, sondern vor allem für die Texte der Redaktion. Thomas J. Spang