Mittelschwaebische Nachrichten
Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (50)
Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchieren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwalt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlich ereignet hat.
Entweder du oder ich, eine von uns beiden geht; und wenn ich’s sein muß, weißt du, wohin ich geh, und du hast wenigstens ausgesorgt, und man kann dir zu deinem Kuhmagd-Gewissen gratulieren. Anna lehnt sich an die Wand, breitet die Arme mit einer Bewegung aus, als wolle sie sich an der Mauer festhalten, sie wird totenbleich und fällt zusammen. Ohne sich um sie zu kümmern, die wie eine Epileptikerin zuckend daliegt, will Elli sich entfernen. Aber sie hat noch nicht die Tür erreicht, da stehen Leonhart und Waremme vor ihr, beide im Smoking. Sie sind gekommen, um Anna abzuholen; ein Herr von dem Busche hat sie mit andern Freunden zum Diner ins Hotel geladen. Waremme tritt zu Anna, beugt sich zu ihr nieder, bemerkt die in Fetzen gerissene Photographie, erhebt sich kopfschüttelnd und wendet sich an Leonhart mit den Worten: Sie sehen, mein lieber Maurizius, daß Sie es so weit nicht kommen lassen durften. Zugleich gibt er ihm einen Wink, sich Annas anzunehmen; er selbst, sonderbar genug, geht auf Elli zu, die schweigend, zitternd ihrem Mann gegenübersteht, reicht ihr den Arm; sie, noch sonderbarer, nimmt seinen Arm, und er führt sie durch den Korridor, wo die Majorswitwe, die natürlich gelauscht und alles gehört hat, wie eine Fledermaus davonhuscht. Unten wartet der Wagen, er läßt sie einsteigen, setzt sich neben sie, fährt mit ihr nach Hause, geleitet sie in ihr Zimmer, spricht etwa eine Viertelstunde mit ihr. Sie hat das Gefühl, ein großer Arzt oder ein herzenskundiger Priester habe sich ihrer angenommen. Ihre Antipathie ist wie verweht, sie kann selbst nichts sagen, aber sie gibt sich, still weinend, dem Zauber seiner Nähe hin. Er ist so sanft, so gütig, so weise, sein Auge umfaßt ihr ganzes Elend. Wie kann das sein, denkt sie, so ein Mann existiert und man glaubt ihn hassen zu sollen? Sie billigt stumm seinen Rat, daß Leonhart sich in den nächsten Tagen von ihr fernhalten soll, er wird ihn so lange bei sich einquartieren, er soll auch Anna nicht sehen, am besten wäre es, wenn Anna hier im Haus der Schwester Unterkunft fände, er wird es ihr dringend empfehlen, es ist wichtig, schon um das üble Gerede zum Schweigen zu bringen. Er beteuert ihr Annas Unschuld, er sagt: Ich werde Ihnen, gnädige Frau, in kurzer Zeit den schlagendsten Beweis dafür erbringen. Was er im Sinne hat, kann nicht mißverstanden werden. In unbezwinglicher Erregung packt Elli seine Hand und will sie küssen. Um Gottes willen! ruft er aus und drückt seine Lippen auf ihre Stirn. In dieser Nacht schläft Elli dreizehn Stunden tief und traumlos. Der große Arzt hat ihr geholfen. Leonhart bleibt die ganze Woche über bei Waremme. An einem Morgen zu Anfang Oktober kommt er bloß in den Garten, schneidet Rosen und schickt Frieda mit einem Strauß zu ihr. Sie ist so freudig erschüttert, daß sie das Mädchen umhalst und abküßt. Alles kann wieder gut werden, schreibt sie in ihrer unfaßlichen Verblendung an die Freundin; das Bittere ist nur, daß mich die letzten zehn Monate um zehn Jahre älter gemacht haben, ich bin eine alte Frau heute. Für Leonhart haben sich unterdessen die Dinge verhängnisvoll zugespitzt. Anna in seinem eigenen Haus und unerreichbarer als durch eine zehnstündige Eisenbahnfahrt von ihm getrennt. Hinter ihm, Wächter jedes Schrittes, Waremme, dem er versprochen hat, Anna, die im November für ein Jahr nach England reisen soll, zu meiden, ja, bis dahin nicht einmal zu sehen. Das ist aber das Schlimmste nicht. Er schuldet Waremme zweitausendachthundert Mark. Es ist eine Schuld, die er in den allernächsten Tagen begleichen muß, was auch immer geschehe; Waremme hat das Geld, um ihm zu helfen und im Vertrauen auf sein Ehrenwort, dem Fonds für die „deutsche Tagung“entnommen. Immerhin ein Freundschaftsdienst, der seinesgleichen sucht; und man kann es Waremme nicht verübeln, daß er zur Bezahlung drängt, da er doch sonst als Defraudant zur Rechenschaft gezogen werden kann. (Die Summe wurde übrigens zwei Tage vor dem Mord ersetzt, freilich nicht von Leonhart, der es gar nicht erfuhr; aber wie und von wem kam nicht zur Sprache.) Es kann wahr sein, was er später aussagte, daß ihm Waremme das Geld von selbst anbot, ohne daß er ihn erst viel bitten mußte.
Waremme ist in Geldangelegenheiten von souveräner Großzügigkeit, hierin mußte ihm Leonhart wie ein etwas degenerierter, weil in Bagatellen erstickter Bruder vorkommen, zudem wußte er ja um die Bedrängnis des Freundes. Bei seinem Schneider hatte er eine auf siebenhundert Mark angewachsene Rechnung, im Tattersall schuldete er hundert Mark, einem kleinen Geldverleiher vierhundert, und auf zwölfhundert Mark belief sich eine Spielschuld, deren Begleichung unaufschiebbar war. Während der nervenzerrüttenden täglichen Auseinandersetzungen mit Elli wagte er an diese sich nicht zu wenden, jetzt wagt er es erst recht nicht. Vielleicht hält ihn ein Überbleibsel von Stolz davon ab, vielleicht erwägt er, daß er gerade in diesem Moment nicht in noch tiefere materielle Hörigkeit zu ihr geraten darf, vielleicht ist es aber nur die alte Furcht, mystische Furcht vor der Richterin. Ja, er schickt ihr Rosen und wagt es dennoch nicht, an ihr besänftigtes Gemüt zu appellieren; er will nicht den Schein erwecken, als hätte er es nur deswegen getan; wie niedrig, wie demaskiert stünde er dann vor ihr da! So faßt er den Plan zu der Reise nach Frankfurt. Dort hat er einige reiche Freunde. An den Vater denkt er erst, nachdem er von diesen mit aller in solchen Fällen gebräuchlichen Liebenswürdigkeit abgewiesen worden ist. Am Abend noch fährt er im Auto auf das väterliche Gut. Den Wagen hat ihm, um die Verweigerung des Darlehens minder empfindlich zu machen, der junge Juwelierssohn zur Verfügung gestellt, an den er sich als letzten gewendet. In diesen Stunden muß sich alles in seinem Kopf verwirrt haben. Er kann es nicht mehr aushalten, ohne Anna zu sein, er lebt nicht, wenn er sie nicht sieht. Er hat ihr von Frankfurt aus ein Telegramm geschickt, sie hat nicht geantwortet. Jetzt, von unterwegs, telegraphiert er an Elli, meldet seine Ankunft für den folgenden Abend. Er will nach Hause, dort ist Anna, alles andere ist gleichgültig, auch die Katastrophe, die ihn erwartet, wenn er ohne Geld zurückkehrt. Um den Vater weich zu stimmen, erzählt er ihm ein halb Dutzend Lügen und Aufschneidereien, zum Beispiel: er sei im Begriff, nach Italien zu reisen, wolle eine Arbeit vollenden, die ihm den Professorentitel eintragen wird, habe sich vorher noch von ihm verabschieden wollen, und anderes mehr. Allein selbst er, bei seinem geringen Scharfblick und großem Eigendünkel, merkt schon beim dritten Satz, daß er bei dem Alten nichts erreichen wird, daß Bitten und Tränen nichts fruchten würden, ebensogut könnte er den Tisch zwischen ihnen versöhnlich stimmen. So ist ihm ein Weg um den andern verrammelt. Was bleibt übrig als die unsinnig schreckliche Tat, mit der die Gedanken schon manchmal feig und lüstern gespielt haben mögen?