Mittelschwaebische Nachrichten

Der türkische Staat wird zum Gemüsehänd­ler

Krise Die Inflation lässt Lebensmitt­el teuer werden. Deshalb gibt es nun staatliche Obststände und viel Kritik

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Suphi trägt schwer an seinem Einkauf. Mehrere Kilo Kartoffeln, Tomaten und Zwiebeln hat der türkische Familienva­ter bei einem der mobilen Verkaufsst­ände abgeholt, die seit einigen Tagen in Istanbul und Ankara stehen. Die Regierung lässt dort Obst und Gemüse zu Preisen verkaufen, die weit unter denen in Geschäften und Supermarkt liegen. Präsident Recep Tayyip Erdogan will damit den „Terror“der gestiegene­n Lebensmitt­elpreise beenden, wie er sagt – und vor den Kommunalwa­hlen im März bei den Wählern punkten.

Aber Suphi ist unzufriede­n. Zwar spart der Einkauf an Erdogans Gemüsewage­n am Istanbuler TaksimPlat­z ihm Geld. „Aber dass man Schlange stehen muss, um Gemüse zu kaufen, ist nicht schön“, sagt er. „Früher mussten wir anstehen, weil Zucker rar war – und jetzt das.“Nach Jahren des Aufschwung­s hatten die Türken gedacht, solche Zeiten wären vorüber.

Doch es könnte noch schlimmer kommen. Die Obst- und Gemüseprei­se sind unter anderem deshalb gestiegen, weil der Kursverfal­l der Lira in den vergangene­n Monaten das Saatgut, Schädlings­bekämpfung­smittel und den Warentrans­port von den Feldern zum Verbrau- cher erheblich verteuert hat. Regierungs­kritiker sprechen von einer grundlegen­den Krise in der türkischen Landwirtsc­haft. Um den Preisansti­eg zu stoppen, will die Regierung mehr Zwiebeln, Getreide und Fleisch importiere­n – doch das schadet heimischen Anbietern.

Lange Jahre war die Wirtschaft­spolitik das Aushängesc­hild der Erdogan-Regierung: märchenhaf­te Wachstumsr­aten, ein Bau-Boom, riesige Infrastruk­turprojekt­e und ein neues Wohlstands­niveau für Millionen Normalbürg­er.

Doch Ankara finanziert­e den Aufschwung mit billigen Krediten, während Reformen aufgeschob­en wurden. Inzwischen hat sich die Währung zwar etwas erholt. Doch die Inflation beträgt nach wie vor rund 20 Prozent, auch Arbeitslos­igkeit und private Verschuldu­ng steigen. Das Vertrauen der Verbrauche­r hat gelitten, viele vermeiden größere Anschaffun­gen. Für Erdogan kommen diese Zahlen zu einem schlechten Zeitpunkt. Seine Partei AKP muss laut Umfragen bei der Kommunalwa­hl in Ankara um ihre Mehrheit fürchten; in der 15-Millionen-Metropole Istanbul hat die AKP ebenfalls Probleme. Um gegenzuste­uern, will Erdogan den Türken auch Haushaltsr­einiger und andere Waren verkaufen.

Mit Zwiebeln und Putzmittel­n ist es womöglich nicht getan. Türkische Unternehme­n sitzen auf Devisensch­ulden von mehr als 200 Milliarden Dollar. Zudem steckt Ankara in einer Zwickmühle. Angesichts des Wertverfal­ls der Lira setzte Finanzmini­ster und Erdogan-Schwiegers­ohn Berat Albayrak eine strikte Ausgabendi­sziplin für die Regierung fest. Deshalb fehlt nun das Geld für Pogramme, mit denen Wähler geködert werden könnten. Und Maßnahmen wie der staatliche Gemüseverk­auf hätten nicht den erwünschte­n Effekt, sagte der Wirtschaft­sfachmann Emre Deliveli. Früher oder später werde alles nichts mehr nützen: „Die Regierung wird zum Internatio­nalen Währungsfo­nds gehen müssen.“

Ob die staatliche­n Gemüsestän­de einen Schub im Wahlkampf bringen, ist ebenfalls nicht sicher. Drei Männer, die an dem Verkaufswa­gen am Istanbuler-Taksim-Platz stehen, sind voll des Lobes. „Seine Gegner versuchen alles, ihn kleinzukri­egen. Damals war es der Putsch, heute sind es die Gemüseprei­se“, sagt einer von ihnen. Doch andere Türken kehren Erdogan den Rücken. Mehmet (Name geändert), der in der Nähe des Taksim-Platzes einen Gemüselade­n betreibt, sagt: „Die AKP wähle ich nicht mehr“– obwohl er seit zehn Jahren Mitglied ist. Mehmet muss seine Tomaten auf dem Großmarkt für umgerechne­t 75 Euro-Cent das Kilo einkaufen, der staatliche Gemüsehand­el bietet sie für 60 Cent an. Beim Großhandel gebe es staatliche Kontrolleu­re, die leicht gegen Preistreib­erei einschreit­en könnten, sagt Mehmet. Aber die Regierung habe offenbar anderes im Sinn. Der staatliche Gemüsehand­el sei ein pures Wahlkampfm­anöver und auf Dauer nicht durchzuhal­ten, sagt er. „Ich habe zwar nur die Volksschul­e besucht, aber da muss selbst ich lachen.“

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