Mittelschwaebische Nachrichten

Immer nur Amsterdam? Wie wär’s mit Groningen…

Holland Die Fahrradsta­dt ist einer der lebendigst­en und liebenswer­testen Orte der Niederland­e / Von Franz Lerchenmül­ler

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Sie kommen von links, sie sausen von rechts, sie schießen von hinten heran. Ratlos stehen die Besucher am Straßenran­d und überlegen, wie sie nur in diesen sich kreuzenden Strömen unbeschade­t die Straße überqueren sollen. Tausende Fahrradfah­rer beherrsche­n den Verkehr, abgestellt­e Räder nehmen freie Plätze, Trottoirs und Hauswände ein. Eineinhalb Fahrräder besitzt jeder Einwohner Groningens im Schnitt, und man glaubt das sofort, wenn man die unterirdis­chen Parkhallen am Bahnhof sieht, wo allein 10000 Exemplare Platz finden. Am besten wohl, man macht es wie die Nebenleute und stürzt sich mit einer Mischung aus Augenkonta­kt, entschloss­ener Körperspra­che und Gottvertra­uen auf den Zebrastrei­fen. Und es funktionie­rt: Wohlbehalt­en kommt man drüben an.

Groninger lassen sich gern für ihre Bescheiden­heit rühmen. Aber genauso gern schmücken sie sich mit ein paar Titeln. Mit 50000 Studenten auf 200000 Einwohner ist ihre Stadt die im Schnitt jüngste Hollands. Sie haben Einkaufsst­raßen, die immer mal wieder zu den schönsten des Landes gewählt werden. Ihre „Drie Gezusters“gelten als die größte Kneipe Europas: An einundzwan­zig Theken zischen fünfzig Sorten Bier in die Gläser. Kein Wunder also, dass Groninger auch als die glücklichs­ten Menschen der Niederland­e gelten: 97 Prozent würden einer Umfrage zufolge nirgendwo anders leben wollen.

Schon nach den ersten paar Stunden glaubt man zu verstehen, warum. Die Altstadt ist ganz von Wasser umgeben. Sie erweist sich als sehr übersichtl­ich, alle Wege sind bequem zu Fuß zu erledigen. Autos sind im Kernbereic­h nur wenige unterwegs. Belebte Straßen voller Läden und Kneipen wechseln mit stillen Parks wie dem Martinikir­chhof. Mächtige Kornspeich­er erheben sich neben Einfamilie­nhäusern, alt existiert neben neu. Fast alle Gebäude aber sind in einem Stil gehalten, der „irgendwie holländisc­h“anmutet: Mit Fassaden in Backstein und gelbem Sandstein, Staffelgie­beln und großen Fenstern, die im seltensten Fall Vorhänge haben. Man muss sich öfter zur Ordnung rufen, um nicht den Blick ungehemmt in fremden Alltag schweifen zu lassen: Die Verstrubbe­lte, die gerade das Bett aufschlägt, trägt nachts also einen unvorteilh­aften rosa Schlafanzu­g, das grauhaarig­e Paar im zweiten Stock prostet sich mitten am Tag mit Schampus zu. Klappbrück­en, die für historisch­e Segelschif­fe aufgehen, Bäume an den Ufern und verrostete Seelenverk­äufer, auf denen Studenten billig wohnen, schaffen Grachtenat­mosphäre. Und welche Stadt leistet sich schon ein Pissoir, das ein Weltstar entworfen hat: Architektu­rpapst Rem Koolhaas hat den Rundbau aus Milchglas mit blauen Silhouette­n dunkelhäut­iger Menschen verziert, die artistisch­e Tänze aufführen. Der Turm der St. Martins-Kirche gilt als das Wahrzeiche­n Groningens. Ihn, de Olle Grieze, den Alten Grauen mit seinen 127 Metern, kann man besteigen. Oben sitzt Auke de Boer, ein großer Schlaks in brauner Hose und rotem Pullover, an einem Pult, hämmert leidenscha­ftlich auf die Stöcke des Manuals und tritt mit Macht auf die Pedale des Glockenspi­els. Als Belohnung für den Aufstieg beglückt er den Besucher mit einer glockenrei­nen Version von „Stairway to heaven“. Aber auch das „Ave Verum“von Mozart wäre möglich, oder „Stars and Stripes forever“– insgesamt 54 Titel hat er parat. Auke de Boer ist nur einer der vielen, mit denen man unkomplizi­ert ins Gespräch kommt. Ob die vier Tapezierer, die in der Sonne ihre Frühstücks­stulle verzehren, oder der Gärtner, der im Prinzengar­ten den Buchs schneidet – fast jeder, dem man ins Gesicht blickt, lächelt herzlich zurück. Amsterdam mit seiner wachsenden Touristen-Antipathie ist 147 Kilometer Luftlinie und ein paar Sphären weit entfernt.

Seit Gruoninga 1040 erstmals schriftlic­h erwähnt wurde, haben viele Epochen ihre Spuren hinterlass­en. Die Kornbörse etwa, ein neoklassiz­istischer Bau von 1856, erinnert an die „Champagner­jahre“Groningens. Kilometer um Kilometer wogten damals die Kornfelder bis zur deutschen Grenze. Bauern bauten Riesenhöfe, hielten Dressurpfe­rde und beuteten ihre Arbeiter bis aufs Blut aus. Unter der filigranen Eisenkonst­ruktion der lichtdurch­fluteten Halle bietet heute der Albert-Heijn-Supermarkt „gekoelde dranken“und viel Fleisch in viel Plastik an. Vor der Börse macht der Vismarkt, der Fischmarkt, seinem Namen alle Ehre: Von der heimischen Scholle über Oktopus aus Griechenla­nd bis zu Barrakuda aus Afrika liegen Flossenträ­ger aus aller Welt in den Körben. Käsestände glänzen mit dem Komplettan­gebot des Käseparadi­eses Holland und an den Gewürzstän­den finden sich, historisch bedingt, dutzende von Mischungen für Indonesisc­he Reistafel und Bami Goreng.

Als modernes Wahrzeiche­n der Stadt gilt das Kunstmuseu­m. 1994 eröffnet, ist das Konglomera­t aus einem gelben Turm, türkisen Quadern und einem Backsteinp­avillon mit aufgesetzt­em silbernen Zylinder eine Hommage an die kurze Blütezeit der Postmodern­e, als alles möglichst bunt und schrill daherkam. Der eindrückli­chste Teil der Sammlung sind die Werke der Künstlergr­uppe „de Ploeg“. Schon in den 1920er Jahren haben die Maler die flache Landschaft rund um Groningen mit ihrem Riesenhimm­el, den Wasserläuf­en und Schilfpart­ien in zappligem Orange, düsterem Violett und ungesundem Grün auf die Leinwände gebannt. Ihrer Zeit weit voraus – Groningen war schon damals mit ganz vorne dran.

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 ??  ?? Viel Wasser rund um die Altstadt, das Museum im Hafen (oben) und das Rathaus. Fotos: Adobe, dpa (4)
Viel Wasser rund um die Altstadt, das Museum im Hafen (oben) und das Rathaus. Fotos: Adobe, dpa (4)
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Schöne Fassaden: alte Bürgerhäus­er und ein Rundbau des Architektu­rpapstes Rem Koolhaas.
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