Mittelschwaebische Nachrichten
Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (64)
Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchieren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwalt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlich ereignet hat.
Etzel konnte sich dann nicht satt sehen an ihren Händen, dem irren Spiel der greifenden Finger, es fesselte ihn wie das Gebaren von hungrigen Raubtieren, denen man ein Stück Fleisch durchs Gitter schiebt; er wünschte, so viel Geld zu haben wie nötig war, um die Gier dieser Hände zu stillen, nur damit sie sich ruhig hinlegen konnten. Aber so viel konnte er wahrscheinlich nie haben noch erwerben, und in der Nacht, wenn er wachend lag und an Waremme dachte (er wachte oft auf, denn der Wohnung gegenüber war eine Tanzschule, wie sich bald herausstellte, und bis zwei Uhr raste immer ein gräßliches mechanisches Klavier), schweiften seine Gedanken auch zu der Frau, und er fragte sich, ob die Hände wenigstens still ruhten, während sie schlief… Von der Tanzschule fiel der Lichtschein herüber in seine Kammer, er hängte in der zweiten Nacht den Mantel über das Fenster, konnte aber dessen ungeachtet lange nicht einschlafen, weil ihn die Wanzen plagten. Schlaf, Halbschlaf, Erwachen, Traum, Halbtraum, Halbwachen, ewiges Gleiten von einem ins andere. Was soll ich tun? dachte er, wie mach ich’s am klügsten? wie geh ich am sichersten? wie fang ich’s an? Anfangen, das hieß also ans Gelingen glauben.
Er glaubte ans Gelingen, weil es gelingen mußte. Nur in den allertrübsten Minuten, zwischen Halbschlaf und Halbtraum, wenn in der Welt draußen, auch in der Tanzschule nicht, und in der Welt drinnen kein Lichtstrahl mehr auszunehmen war, regten sich Zweifel, und einmal traf ihn die Vorstellung wie ein Hieb in den Nacken: wenn er tot wäre! wenn er vorige Woche, wenn er gestern gestorben wäre? Dann stünd ich da wie der Ochs vorm neuen Tor und könnt mich trollen. Aber bei klarer Überlegung beschloß er, das könne nicht sein. Dann wäre das Gesetz in ihm selber aufgehoben gewesen, dann war ich ein Minus in der Schöpfung, sagte er sich, alle Dinge haben eine tiefere Wahrheit, als die man sehen und fassen kann; wie kann Waremme gestorben sein, da Maurizius noch im Zuchthaus sitzt? Das war das Vorwärtszwingende, nie ganz Ausdenkliche: der Mann im Zuchthaus und daß jeder Tag, der hier verging, auch ein vergangener für ihn dort war und man sich nicht genug beeilen konnte, dem ein Ende zu bereiten, damit die Welt aufhörte, ein krüppelhaftes Mißgebild und eitriges Geschwür zu sein, das einem leid und weh tat.
Am andern Tag ging er in die Usedomstraße, Ecke Jasmunder Straße und stieg in den ersten Stock hinauf; am Treppengitter hing ein Pappendeckel-Schild, auf welchem in großen schwarzen Lettern zu lesen war: Mathilde Bobike Mittagstisch Wochenabonnement 4 Mark 50 Pfennig. Es war eines von den Häusern, in die jahrelang kein frischer Luftzug dringt und wo vom Torweg bis zu den Mansarden ein abgelagerter Geruch von Hammelfleisch, gekochtem Kohl, Windeln, Leder und Spülwasser steht. Er verlangte Frau Bobike zu sprechen; alsbald erschien eine sechs Fuß hohe Dame mit knochigen Zügen und eisgrauem Scheitel, blickte wortlos auf ihn herunter, und nachdem er ihr mitgeteilt, daß er einen Monat lang bei ihr zu essen wünsche, schob sie ihm wortlos eine Quittung hin, er bezahlte achtzehn Mark, und sie händigte ihm wortlos ein schmales Heft ein, das vier Blätter mit je sieben Speisemarken enthielt.
Die heiligernste Entschlossenheit zu einer Sache bringt sogar in einem Kind erleuchtete Gedanken hervor. Aber Etzel war nur der Statur und den Jahren nach ein Kind, ein Begriff übrigens, der in der Anwendung auf die Sechzehnjährigen eine Verlegenheitsübereinkunft derer ist, die die Kindheit verloren haben einen Tag, nachdem sie gewesen ist. Sie weisen auf den Erfahrungsmangel hin, jedoch ihre Erfahrung ist bloß ein mühseliges Mosaik, das kein Bild, eine fleißige Addition kleinster Ziffern, die selten ein Resultat ergibt, weil nur wenige Menschen fähig sind, wahrhafte Erfahrungen zu machen; es sind keine lebendigen Säfte da, der Baum trägt nur hölzerne Früchte, sie haben kein aufbewahrendes Herz. Es ist die Idee des Lebens, die den Menschen schöpferisch macht, die angeborene ewige Idee, die er von sich selber erschafft. Dann ist Jugend nur ein Intervall, und was ihr an Rückblick und summierender Vergleichung fehlt, ersetzt sie durch inneres Dasein, einfach durch leidenschaftliche Gegenwart. Gewillt, das unmöglich Scheinende zu unternehmen, schaute Etzel die Welt, in die er sich damit begab, zunächst einmal furchtlos an. Das Kosthaus der Mathilde Bobike florierte unter dem Titel einer Mittagspension für bessere Herrschaften, das heißt, es versammelten sich täglich zwischen zwölf und eins in einem öden, saalartigen Raum und zwei kleineren Nebenzimmern dreißig bis vierzig Personen von zweifelhafter Beschaffenheit, allerlei Entgleiste und Strauchelnde, mattgewordene Schwimmer auf dem großen Strom, Leute von angefaulter Eleganz und schlechtverdeckter Armut, stellenlose Kommis, reisende Virtuosen, kleine Vorstadtschauspieler und -schauspielerinnen ohne Engagement, Agenten, die vor einem gewagten oder nach einem mißlungenen Coup waren, Barmixer und Eintänzer aus den Vergnügungsstätten der Umgegend, ein paar Provinzler, die mit ihren letzten Hoffnungen in die Hauptstadt gekommen waren und nun festsaßen wie ein Wrack auf einer Sandbank, ein oder das andere politisch verdächtige Individuum, eine Ehefrau, die aus dem gemeinsamen Haushalt geflüchtet war, ein junges Mädchen, Pfarrerstochter aus dem Osten, das zum Kino wollte. Er legte es vom ersten Augenblick darauf an, niemand vor den Kopf zu stoßen und durch ein gefälliges, zutrauliches, bescheiden-gesprächiges Wesen die Sympathien zu gewinnen. Er freundete sich rasch mit seinen Tischnachbarn an und verwickelte sie zwischen Kartoffelsuppe und Gemüsepudding in Gespräche, die seine Wissenschaft von den sozialen Grenzgebieten nicht unwesentlich erweiterten. Es war gleich von einer Defraudation die Rede, die einer irgendwo begangen, auch sein Name wurde augenzwinkernd genannt, und wie man mit einer geringen Portion Geriebenheit durch alle Maschen der Gesetze schlüpfen könne. Man sprach von einem gewissen KabarettErich, der im Viktoriacafé Klavier spielte und mit der jungen Frau des Besitzers nebst viertausend Mark durchgegangen war. Man sprach mit einer Mischung von Neid und Bewunderung darüber, wie Etzel bisher nur von bedeutenden Kunstleistungen, höchstens von einem sportlichen Rekord hatte sprechen hören. Hinter ihm unterhielten sie sich über die Börse, am Tisch links erklärte ein schwindsüchtig aussehender Maler, wieviel Geld heutzutage mit Bilderfälschungen verdient werde; rechts wurde aufgeregt über die Höhe der Bestechungssumme gestritten, die ein Wohnungskommissar bei einer bestimmten Gelegenheit eingesteckt hatte. »65. Fortsetzung folgt