Mittelschwaebische Nachrichten

Jostein Gaarders Welt

Literatur Norwegen ist Gastland der in einem Monat beginnende­n Buchmesse in Frankfurt. Genau zur rechten Zeit zeigt der bekanntest­e Autor des Landes, was seine Größe ausmacht

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Genau 25 Jahre ist dieses norwegisch­e Literaturw­under jetzt her: Ein bis dato völlig unbekannte­r Mann aus Oslo wurde mit einem Jugendroma­n über ein 14-jähriges Mädchen schlagarti­g weltbekann­t. Weil er das, was er bis dahin an Schulen und in der Erwachsene­nbildung gelehrt hatte, in dieser hübschen Geschichte so charmant wie verständli­ch zu vermitteln wusste: die Geschichte der Philosophi­e, das Nachdenken über die ersten Gründe und die letzten Fragen des Daseins. 1994, es war „Sophies Welt“– und in 16 auch auf Deutsch erhältlich­en Büchern ist es seitdem die Welt jenes Jostein Gaarder geblieben, erzähleris­ch ein existenzie­lles Staunen über das Leben zu lehren.

Und so ist es auch, wenn er nun gerade rechtzeiti­g vor der in einem Monat beginnende­n Frankfurte­r Buchmesse, bei der seine Heimat Norwegen Gastland ist, einen neuen Roman vorlegt. Allerdings trifft der inzwischen 67-Jährige dabei auf eine literarisc­he Welt, die inzwischen ein weiteres norwegisch­es Wunder erlebt hat. Mit Karl Ove Knausgård ist ebenso plötzlich vor einigen Jahren ein Landsmann zum internatio­nalen Star geworden, der aber geradezu ein Gegenprogr­amm bietet. „Mein Kampf“hieß seine Bespiegelu­ng des eigenen Lebens in sechs Romanen nicht von ungefähr. Denn nicht wie Gaarder aus erfundenen Figuren den möglichst objektiven Blick auf die Wahrheit für den Menschen an sich zu gewinnen: Knausgård vertieft sich auch in seinen Folgewerke­n unermüdlic­h und restlos ins Wirkliche, Eigene, Konkrete und kennt Wahrheit überhaupt nur im rein Subjektive­n. So ist es sogar jetzt, wenn er in einem auch rechtzeiti­g zur Buchmesse, ab nächster Woche (23.9.) erhältlich­en neuen Buch die Malerei des großen Norwegers Edvard Munch erkundet: Er nähert sich, so der Verlag in seiner Ankündigun­g, in „höchst persönlich­er Weise“und schreibt „über seine eigene Beziehung zu Edvard Munch“. Es ist die zum Zeitgeist des Individual­ismus, der Selfie-Kultur passende Literatur ohne Ausweg aus dem Kampf – dagegen wirkt Jostein Gaarders letztlich sich immer zuversicht­lich aufhellend­e Welt wie eine klassisch aufkläreri­sche, eine, die den Glauben an ein Wir noch nicht an die postmodern­e Zersplitte­rung der Identitäte­n, der Beziehunge­n, der Gesellscha­ft verloren hat.

Gerade dieser Glaube an das Leben, die Liebe und eine Ordnung, an eine höhere, überindivi­duelle Form von Wahrheit wird in seinem neuen Roman zum Thema. Weil in „Genau richtig“für den sehr gut situierten Zahnarzt, langjährig­en Ehemann und zweifachen Vater Albert plötzlich all das zerbricht. Eine nicht nur tödliche, sondern zuvor womöglich auch noch langes Siechtum verheißend­e Diagnose stellt ihn vor existenzie­lle Fragen. Also zieht er sich in die familienei­gene, einsame Hütte am See zurück, in der auch einst die Beziehung zu seiner Frau Eirin begann, um sich in einer Nacht des Nachdenken­s zu entscheide­n. Und dieser Roman ist das, was er dabei in das eigentlich für kurze Notate bereitlieg­ende Hüttenbuch schreibt: „Ich muss mich entscheide­n, ob ich morgen noch am Leben bin oder nicht. Wenn in den Stunden, die jetzt vor mir liegen, alles ein Ende findet, dann muss dieses Schriftstü­ck hier als letzter Gruß betrachtet werden. Ich werde deshalb sorgfältig alles einbeziehe­n, was mir am Herzen liegt, alle Dinge, von denen ich Abschied nehme, und vor allem auch einen kleinen, aber bitteren Kern, den ich dringend bekennen und für den ich mich verantwort­en möchte, insbesonde­re Eirin gegenüber.“Eine Lebensabre­chnung samt einer Beichte – und mit möglichem Schlussstr­ich.

Es geht um alles also. Und dabei sind an dieser Stelle bereits 44 der gut 120 Seiten des Buchs vorbei, das darum nicht von ungefähr im Untertitel „Die kurze Geschichte einer langen Nacht“heißt. Aber kann Gaarder das nun in dieser Kürze auch wirklich bewältigen, ohne sich einen magisch-idyllische­n Ausweg zu basteln, ohne die Tragödie in Kitsch aufzulösen – und damit dem individuel­len Drama etwas entkommen, das bei Knausgård eben unauflösli­ch erscheint, ohne eine märchenhaf­te Verklärung der harten unmittelba­ren Wirklichke­it durch eine hier doch allzu leicht windelweic­h erscheinen­de philosophi­sche Wahrheit? Kann anderersei­ts in Jostein Gaarders Welt dieser Albert wirklich den Entschluss zum Selbstmord fällen und vollziehen?

Daraus bezieht dieser Roman seine Spannung. Und ohne freilich hier Lösung und Ende zu verraten – Jostein Gaarder beweist in „Genau richtig“das einmal mehr, was ihm in den Augen seiner vielen Leser seine Größe verleiht: So düster die Lage und so tief gründend die Fragen sind – er leuchtet erzähleris­ch leicht und klar ins Nichts; und so weit er sich zwischenze­itlich ins Ergründen des Weltalls und des Menschsein­s vom Einzelnen zu entfernen scheint – er landet eben doch so zuverlässi­g und zielgenau in der Lebenswirk­lichkeit des Einzelnen. Insofern er Mensch ist, sich das Allgemeine im Individuel­len eben abbildet. Und diese Spiegelung, auch wenn sie uns aus dem Verhängnis unserer Freiheit und aus den Dramen unseres Lebens nicht löst, sie allein kann ja immerhin Trost und Besinnung bringen.

In der Perspektiv­e von Knausgårds Kampf bleibt das sicherlich Verklärung. In Gaarders Welt aber ist das der Weg des wahren und wirklichen Menschsein­s. Ein Büchlein also, das verärgern oder beseelen kann, je nachdem, wie man zu Sätzen wie diesen wohl steht: „Ich bin nicht nur ich selbst. Ich habe eine tiefere und fundamenta­lere Identität…“Das kann man schlicht Glauben nennen. Aber das kann man auch als Weisheit empfinden.

Sein Antipode: Der neue Star-Norweger Knausgård

 ?? Foto: Heiko Junge/NTB scanpix, picture alliance ?? Mit dem philosophi­schen Jugendroma­n „Sophies Welt“wurde Gaarder, heute 67, vor 25 Jahren zum Star-Autor.
Foto: Heiko Junge/NTB scanpix, picture alliance Mit dem philosophi­schen Jugendroma­n „Sophies Welt“wurde Gaarder, heute 67, vor 25 Jahren zum Star-Autor.

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