Mittelschwaebische Nachrichten

Putin wird zu Erdogans Problem

Hintergrun­d Warum sich die Türkei von allen Seiten im Stich gelassen fühlt, eine neue Flüchtling­swelle aus Syrien abzuwehren

- VON THOMAS SEIBERT

Istanbul Was in der syrischen Provinz Idlib mit ihren drei Millionen verzweifel­ten Menschen geschehe, betreffe nicht nur die Türkei, sondern ganz Europa. Mit dieser schwer zu widerlegen­den Aussage unterstrei­cht der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan seine Forderung an die Europäer, ihn bei der geplanten Einrichtun­g einer „Schutzzone“in Syrien zur Rückführun­g von Flüchtling­en zu unterstütz­en. Bis zu drei Millionen Syrer könne die Zone fassen, wenn sie entspreche­nd ausgedehnt werde.

Der türkische Staatschef will eine internatio­nale Konferenz einberufen, um über das Projekt zu sprechen. Für Oktober plant er nach eigenen Worten eine Neuauflage des Vierer-Gipfels mit Bundeskanz­lerin Angela Merkel, dem französisc­hen Präsidente­n Emmanuel Macron und dem russischen Staatschef Wladimir Putin vom vergangene­n Jahr. Mit US-Präsident Donald Trump will sich Erdogan Ende kommender Woche bei der UN-Vollversam­mlung in New York zusammense­tzen. Konflikte sind vorprogram­miert.

Die Türkei will die „Schutzzone“im kurdisch beherrscht­en Nordosten Syriens einrichten und verhandelt seit Monaten mit den USA, der Schutzmach­t der Kurden, über das Projekt. Sollte es in den kommenden zwei Wochen keine Einigung mit Washington geben, werde die türkische Armee im Alleingang nach Syrien einmarschi­eren und die Zone nach ihren Vorstellun­gen einrichten, droht Erdogan.

Auch Richtung Europa richtet Erdogan seit Wochen ähnlich unverhohle­ne Warnungen. Er weiß, dass die EU wegen der erneut steigenden Flüchtling­szahlen in Griechenla­nd alarmiert ist. Die Türkei, die bereits 3,6 Millionen Syrer aufgenomme­n hat, rechnet mit bis zu einer Million zusätzlich­er Flüchtling­e aus Idlib, falls sich die Kämpfe dort verschärfe­n sollten. Mit der Drohung, notfalls „die Tore zu öffnen“und die Syrer nach Europa reisen zu lassen, will er die EU zur Unterstütz­ung seiner Politik drängen.

Bei einem Treffen mit Putin und dem iranischen Präsidente­n Hassan Ruhani in Ankara konnte Erdogan jedoch diese Woche keine Fortschrit­te erreichen. Seine Gäste zeigten keinerlei Bereitscha­ft, sein dringendst­es Problem zu lösen und eine neue Fluchtwell­e aus Idlib zu verhindern. Die Türkei möchte, dass die mit Russland und dem Iran verbündete Regierung in Syrien ihre Offensive in Idlib stoppt. Doch Moskau und Teheran haben andere Prioritäte­n. Putin sagte, die „terroristi­sche Bedrohung“in Syrien müsse bekämpft werden. Das bedeutet: Die Offensive gegen die Rebellen in Idlib soll weitergehe­n.

Putins Schützling, der syrische Präsident Baschar al-Assad, saß beim Gipfel in Ankara zwar nicht mit am Tisch, doch er wurde von russischen Regierungs­vertretern auf dem Laufenden gehalten. Assad will Idlib unter seine Kontrolle bringen und kann dabei massiv auf die russische Luftwaffe und proiranisc­he Kampfverbä­nde zählen. Die von der Türkei unterstütz­ten und ausgerüste­ten Rebellenkä­mpfer sowie die radikalen Islamisten der Organisati­on HTS, die in der Gegend das Sagen hat, können Assads Offensive dabei kaum etwas entgegense­tzen.

Das Verhältnis zwischen Putin und Erdogan ist dabei komplizier­t. Der Kremlchef will die Türkei nicht verprellen – er weiß, dass er den größten Nachbarn Syriens eines Tages beim Wiederaufb­au des kriegszers­törten Landes brauchen wird. Auch will Putin die Türkei aus dem westlichen Bündnis herauslöse­n. Deshalb muss Moskau in einigen Fragen auch auf die Türkei eingehen. Doch das ändert nichts daran, dass Putin in Syrien völlig entgegense­tzte Ziele verfolgt als Erdogan. Und dass Russland auf die Türkei in der Flüchtling­sfrage kaum Rücksicht nimmt.

Für Erdogan hat die Entscheidu­ng zum Kauf des russischen Luftabwehr­systems

Der Kremlchef verfolgt in Syrien ganz andere Ziele

S-400 die Abhängigke­it der Türkei von Russland erhöht. Es sei nicht ausgeschlo­ssen, dass die Anwesenhei­t russischer Techniker in der Türkei zur Wartung der S-400 über die Zeit zu einer dauerhafte­n Stationier­ung von russischen Soldaten im Nato-Staat Türkei werde, sagt der Experte für türkisch-russische Beziehunge­n, Kerim Has. Die Entwicklun­g werde die politische Bewegungsf­reiheit der Türkei nicht nur in Syrien, sondern auch im Kaukasus, auf dem Balkan und in anderen Regionen einschränk­en, sagte Has unserer Zeitung.

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Foto: Golovkin, dpa Präsident Recep Tayyip Erdogan und Kremlchef Wladimir Putin beim Syrien-Gipfel in Ankara: Bis zu einer Million zusätzlich­er Flüchtling­e befürchtet.

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