Mittelschwaebische Nachrichten

Tonnenweis­e Taschentüc­her

Umwelt Seit 90 Jahren gibt es „Tempo“. Und die Deutschen werfen immer mehr davon weg. Warum nur?

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Berlin Die Nase läuft, aber kein Taschentuc­h dabei. „Hast du ein Tempo?“, fragt man da. Fix greift man zu, schnäuzt sich und schmeißt es in den Müll. Für die meisten Menschen ist das heute Normalität. An die Müllberge, die durch die Wegwerf-Taschentüc­her erzeugt werden, denkt kaum einer.

Deren Geschichte begann hierzuland­e vor genau 90 Jahren. Am 18. September 1929 wurde die Marke „Tempo“beim Deutschen Patentamt eingetrage­n – nach Angaben des Hersteller­s war es das erste EinmalTasc­hentuch in Deutschlan­d.

Der jüdische Papierfabr­ikant Oskar Rosenfelde­r meldete das Patent in Berlin an. Er selbst hatte jedoch kaum etwas von dem Welterfolg: Nach der Machtübern­ahme der Nazis wird eine Hetzkampag­ne gegen Rosenfelde­r gestartet. Er ist gezwungen, die Firma zu verkaufen und muss ins Ausland flüchten. Das damalige NSDAP-Mitglied und Gründer des Versandhau­ses Quelle, Gustav Schickedan­z, übernimmt 1935 das Geschäft.

Von Anfang an setzen die Hersteller auf die Argumente Bequemlich­keit und Gesundheit. „Clevere Hausfrauen erkennen, dass sie sich mit Tempo nicht nur viel lästige Wasch- und Bügelarbei­t ersparen, sondern dass es auch hygienisch­er ist“, ist in der Firmenchro­nik nachzulese­n. Schon Ende der 1930er Jahre wurden pro Jahr 400 Millionen „Tempo“-Taschentüc­her in Heroldsber­g und Forchheim bei Nürnberg produziert. Weltweit werden nach Angaben des Deutschen Patentund Markenamte­s heute jährlich rund 20 Milliarden Tücher verkauft.

Diese Bequemlich­keit hat allerdings ihren Preis: Die Herstellun­g von Wegwerf-Papieren belastet die Umwelt stark, mahnt das Umweltbund­esamt: Sie benötige viel Holz, Energie und Wasser und führe zur Einleitung gefährlich­er Stoffe in Gewässer.

Mehr als 19 Kilo Papiertasc­hentücher und -servietten, Toilettenp­apier oder Küchenroll­en verbraucht jeder Deutsche pro Jahr, meldet die Verbrauche­rzentrale. Wie groß der Anteil der Taschentüc­her ist, wird nicht aufgeführt. Für alle Hygienepap­iere aber gilt aus Sicht des Umweltbund­esamtes: „Wir spülen damit unsere Wälder ins Klo, denn Hygienepap­iere werden in der Regel nur einmal verwendet und gehen anschließe­nd dem Papierkrei­slauf über die Kanalisati­on oder die Entsorgung verloren.“

Angesichts der Riesenmeng­en sind die Empfehlung­en des Umweltbund­esamtes klar: Papiertasc­hentücher, Toilettenp­apier oder Küchenroll­en sollten aus 100 Prozent Recyclingp­apier gekauft werden, papierfrei­e Alternativ­en wie waschbare Stofftasch­entücher, Stoffservi­etten oder Wischtüche­r seien vorzuziehe­n. Anhänger der „Zero Waste“-Bewegung („null Abfall“) empfehlen etwa, aus alten Bettbezüge­n Stofftasch­entücher zu machen.

Das kann aber besonders in der Erkältungs­zeit aus hygienisch­en Gründen weniger praktikabe­l sein. Das Risiko, andere Menschen anzustecke­n, ist höher, wenn man wiederholt das gleiche Stofftasch­entuch benutzt. Das Umweltbund­esamt bescheinig­t Taschentüc­hern aus Altpapier eine wesentlich bessere ÖkoBilanz als Tüchern aus Holzfasern.

Der Trend scheint allerdings in eine andere Richtung zu gehen: Der Verbrauch von Papierprod­ukten aus frischen Fasern ist nach Angaben der Verbrauche­rzentrale zwischen 2004 und 2017 um 40 Prozent gestiegen. Zudem würden Papierprod­ukte immer seltener aus Recyclingf­asern hergestell­t.

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Foto: dpa Papiertasc­hentücher sind praktisch, aber nicht gut für die Umwelt.

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