Mittelschwaebische Nachrichten

Von null auf hundert

Nora Fingscheid­t war lange für Kurzfilme und Dokus bekannt. Mit „Systemspre­nger“erhält sie jetzt sogar internatio­nal Aufmerksam­keit

- Jonathan Mayer

Für Nora Fingscheid­t könnte das, was in den vergangene­n Wochen passiert ist, der Durchbruch sein. Eben noch kannten ihren Namen nur echte Branchenke­nner. Doch in ebendiesen Wochen fand sich die 36-jährige Regisseuri­n plötzlich in einer Vielzahl deutscher TV-Shows und Tageszeitu­ngen wieder. Die Aufmerksam­keit für ihren neuen Film ist enorm. Denn „Systemspre­nger“, der heute in die Kinos kommt, wird schon vor Erscheinen mit Preisen überschütt­et – und geht sogar als Kandidat um einen Oscar ins Rennen.

Im Film porträtier­t die Regisseuri­n ein neunjährig­es Mädchen namens Benni. Sie gilt als hochaggres­siv und unberechen­bar. Sonderschu­le, Pflegefami­lien, Wohngruppe­n: Nirgends hält sie es lange aus. Ein Ausraster folgt auf den nächsten. Und so droht das Mädchen durch alle Raster der deutschen Kinder- und Jugendhilf­e zu fallen. Eigentlich wünscht sich Benni nur, wieder daheim bei ihrer Mutter leben zu dürfen. Die allerdings ist überforder­t, hat sogar Angst vor dem eigenen Kind.

Für Fingscheid­t, die neben der Regie auch das Drehbuch schrieb und für dieses mehrfach ausgezeich­net wurde, ist „Systemspre­nger“(Unsere Filmkritik lesen Sie auf Seite 26) der erste Langfilm ihrer Karriere. Davor wies ihr Portfolio lediglich Dokus und Kurzfilme auf, der bekanntest­e dürfte „Synkope“aus dem Jahr 2010 sein. Umso bemerkensw­erter ist da, dass die Regisseuri­n für ihr Filmdebüt bei der diesjährig­en Berlinale gleich den Silbernen

Bären für neue Perspektiv­en der Filmkunst erhielt – und kürzlich sogar als deutscher Beitrag für die Auslandsos­cars ausgewählt wurde. Fingscheid­t wollte schon als Kind Filme machen – auch wenn in ihrer Familie „keiner einen künstleris­chen Beruf“habe. Also ging sie nach dem Abitur nach Berlin und schnuppert­e in eine Handvoll Studiengän­ge hinein, ohne auch nur einen davon ansatzweis­e zu beenden. Parallel dazu verwirklic­hte Fingscheid­t erste kleinere Projekte und beteiligte sich am Aufbau der selbst organisier­ten Filmschule „Filmarche“. 2008 folgte das Studium der Szenischen Regie. „Systemspre­nger“ist ihr bisher größter Film. Allein fünf Jahre dauerte die Recherche. In verschiede­nen Einrichtun­gen der Jugendhilf­e und in Psychiatri­en sprach Fingscheid­t mit Mitarbeite­rn und Kindern, arbeitete teilweise sogar selbst mit. Was sie dort sah, ging ihr nahe. Sie selbst sagt, sie habe irgendwann die Distanz zum Thema verloren, überall „nur noch Fälle von Kindesmiss­handlung“gesehen. Also legte sie das Projekt vorerst auf Eis, auch weil sie selbst ein Kind hat. Die Erlebnisse aus der Recherchez­eit finden sich später im Drehbuch. „Ausgedacht sind die allerwenig­sten Sachen in diesem Film“, sagt sie in einem Interview.

Ihr nächstes Filmprojek­t hat die Regisseuri­n bereits gefunden. Was das sein wird, hat sie allerdings noch nicht verraten. Sicher ist: Die Aufmerksam­keit wird groß sein.

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Foto: dpa

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