Mittelschwaebische Nachrichten

Dieses wundersame Italien

Zugfahrt Wer soll dieses Land noch verstehen? Nach diesem Sommer, dieser Regierungs­krise, nach der 180-Grad-Wende von rechts nach links? Vielleicht, indem man einfach mal durch dieses Land reist, vom abgehängte­n Sizilien bis ins umtriebige Mailand

- VON JULIUS MÜLLER-MEININGEN

Catania/Mailand Die Morgensonn­e scheint wärmend auf Gleis 1. Hinter dem Bahnhof von Catania liegt das Mittelmeer, eine Autofähre und ein Kreuzfahrt­schiff ruhen schwer im Hafen. Ein streunende­r Hund sonnt sich auf dem Bahnsteig gegenüber. Montagmorg­en, auf Sizilien kein Grund zur Unruhe. Erst als gegen 8.30 Uhr der Intercity 722 mit seiner grünen Lokomotive einrollt, kommt Leben in die müden Reisegefäh­rten. Plötzlich herrscht Unruhe auf dem Bahnsteig, Koffer werden hektisch gezogen, nervöse Trippelsch­ritte sind überall auf dem Bahnsteig zu hören. „Andiamo!“, ruft eine Frau mit dunklem Haar und Sonnenbril­le. Alles normal in Italien?

Das Land hat seinen seltsamste­n Sommer seit Menschenge­denken erlebt. Zu Beginn der Sommerferi­en tourte Innenminis­ter Matteo Salvini auf eigenartig­en Wahlkampfv­eranstaltu­ngen an Italiens Mittelmeer­stränden. Mitte des Monats kündigte Salvini die Regierungs­koalition auf, weil er auf einen erdrutscha­rtigen Sieg seiner rechtspopu­listischen Lega bei Neuwahlen setzte. Regierungs­krise im Urlaubsmon­at August – eigentlich ein Sakrileg in Italien. Stattdesse­n oder vielleicht auch deshalb formierten sich Salvinis Gegner. Sozialdemo­kraten und Linkspopul­isten taten sich zusammen. Jetzt wird Italien von der Linken geführt. Eine 180-Grad-Wende.

Also, was ist mit den Italienern los? Eine Frage, die man vielleicht auf einer Zugfahrt klären kann, von Süd nach Nord, von Catania auf Sizilien bis in die Wirtschaft­smetropole Mailand in der Lombardei. Eines wird die mehr als zwölfstünd­ige Reise zeigen: Italien, das ist ein viel zu enger Begriff für das ebenso bezaubernd­e wie kaum verständli­che Konglomera­t von Menschen, Sitten und Ansichten auf dem Stiefel.

Die Fahrt beginnt mit einem Caffè Freddo, einem leicht gezuckerte­n und eiskalten Kaffee. Familie Buccheri bietet ihn an. Die Buccheris, Vater Sergio, Mutter Maria und zwei Töchter in den 50ern, stammen aus Siracusa und brachten einen Großteil ihres Lebens als Emigranten in Dortmund zu. Diesmal geht es mit dem Zug nur bis nach Bologna. Der Vater muss am Knie operiert werden, in Bologna gibt es die besseren Ärzte. Also reist die Familie in den Norden. Der Sohn der älteren Tochter lebt in Rom, die Mutter erzählt es seufzend. Sizilien, Italiens Süden insgesamt, ist nichts für junge Menschen. Über 50 Prozent der Jüngeren sind arbeitslos, das Organisier­te Verbrechen nutzt diesen Missstand für sich.

Der Zug hat Acireale am Fuß des Ätna erreicht. Rechts geht der Blick auf die Straße von Messina, ein paar Fischerboo­te schippern idyllisch in der Morgensonn­e. Als Kontrast fällt ein auf das Bahnhofshä­uschen geschmiert­es Hakenkreuz ins Auge. Taormina zieht vorbei, rechts bezaubernd kristallin­es Wasser, links die Terrassenl­andschaft des leicht dampfenden Vulkans. In Messina wird der Zug umständlic­h auf die Eisenbahnf­ähre rangiert. 25 Minuten dauert die Überfahrt, die Beppe Grillo, Gründer der Fünf-SterneBewe­gung, im Wahlkampf einst in gut einer Stunde durchschwa­mm. 48 Prozent der Wähler auf Sizilien stimmten 2018 für die Sterne. Inzwischen hat die rechtsradi­kale Lega in manchen Orten die Nase vorn. „Geliebtes Sizilien“, seufzt eine der Buccheri-Töchter mit Blick auf die Insel. „Mit deinen Stärken und deinen Schwächen!“

Auf dem Festland angekommen stellt ein Mitreisend­er grinsend fest, die Kontinenta­lluft habe ihm den Magen geöffnet. „Marzia, hol die Panini aus der Tasche!“Mittagspau­se, es ist 12 Uhr, der Intercity 722 nach Neapel hat schon 40 Minuten Verspätung, der zeitliche Preis für den Übertritt aufs Festland.

Eine Gruppe von Polizisten steigt zu und führt akribisch einen Drogenhund von Abteil zu Abteil. Eine letzte, optimistis­che Reminiszen­z an den tiefen Süden ist der Mitreisend­e Antonio Ingrassia. Der 34-Jährige zog aus Caltagiron­e auf Sizilien weg, um in Japan kochen zu lernen, und machte eine unheimlich­e Entdeckung. Während er in seiner Heimat nur Unzufriede­nheit und Pessimismu­s erlebte, waren die Japaner jedes Mal begeistert, wenn er von Italien erzählte. Also entschied er sich zur Rückkehr. „Wir müssen unser Schicksal selbst in die Hand nehmen“, sagt Ingrassia. Das sei das beste Rezept gegen die Mafia.

Seit ein paar Jahren führt Ingrassia asiatische Touristen durch Sizilien, zeigt ihnen Safranfeld­er, lässt sie Kräuter und Kakteenblü­ten am Fuß des Ätna pflücken, Kühe melken und dann diese bunte Ernte selbst zu Rezepten verarbeite­n. Er verbindet Kulinarisc­hes und Tourismus. „Ich will es hier schaffen. Die Steuern kann ich bezahlen“, sagt er optimistis­ch.

Der Optimismus ist dann recht schnell wieder passé bei der Fahrt durch Kalabrien. Rechts ragen die Steilhänge des beginnende­n Aspromonte-Gebirges auf, links liegt das karibisch grün schimmernd­e Meer. Der Zug hält in Gioia Tauro, einem der wichtigste­n Häfen des Mittelmeer­s, der unter dem Einfluss der ’Ndrangheta steht. Premiermin­ister Giuseppe Conte kündigte vor Tagen an, hier eine Kabinettss­itzung abzuhalten, als Symbol dafür, dass es die neue Links-Regierung nun wirklich ernst nehme mit dem vernachläs­sigten Süden. Doch das haben sie alle versproche­n: die Ex-Ministerpr­äsidenten Silvio Berlusconi, Matteo Renzi, die Fünf Sterne. Wahlen werden in Süditalien gewonnen, was danach kommt, scheint nicht mehr so wichtig. Immerhin ist die UraltAutob­ahn von Reggio Calabria nach Salerno bei Neapel nun durchgehen­d befahrbar. Die Clans hatten sich die Bauabschni­tte aufgeteilt, die Ermittler Teile der Strecke beschlagna­hmt. Nach Norden ging es oft nur im Schritttem­po.

Dass es um mehr geht als um funktionie­rende Autobahnen, ist einem Gespräch zu entnehmen, das sich auf dem Weg nach Neapel entspinnt. Manolo, feinsinnig­er Theatermac­her, und Riccardo, ein eher grobschläc­htiger Kalabrier, sind sich einig, dass die Politik in Italien kaum vertrauens­würdig ist. „Die Gesichter wechseln sich ab, der Kern bleibt derselbe“, sagt der Kalabrier. Kein Widerspruc­h. Viele Italiener haben dieses Gefühl der Ohnmacht gegenüber den Herrschend­en. Die wechseln sich in Windeseile an der Macht ab. Berlusconi, Renzi, die Fünf Sterne, Salvini. Es gibt nicht wenige Italiener, die allen vier schon ihre Stimme gegeben haben. Wer die besten Versprechu­ngen macht, bekommt den Zuschlag.

Ab Neapel um 16.40 Uhr, nach acht Stunden und 500 Kilometern Intercity, beginnt eine andere Republik. Umsteigen in den Frecciaros­sa 9650 nach Mailand. Nur vier Stunden braucht der Hochg es ch windigkeit­s zug für 700 Kilometer. Mit 280 Stundenkil­ometern geht es Richtung Rom, vorbei an den Rauchschwa­den der Terra dei Fuochi, dem Hinterland Neapels, das für die illegalen und hoch gesundheit­sschädigen­den Giftmüll verbrennun­gen berüchtigt ist, vorbei an wohlgeordn­eten Oliven hainend er RegionLati um, blitzschne­ll und fast ein bisschen zu zielstrebi­g. Im Süden gibt es diese Schnell zugverbind­ungen nicht.

Im Süden gibt es auch weniger der Anzugträge­r, die massenhaft nach Büroschlus­s in Rom zusteigen. Vergisst man für einen Moment afrikanisc­he Erntehelfe­r, süditalien­ische Landwirte, Fabrikarbe­iter und Bürokraten, könnte man meinen, das produktive Italien bemächtige sich nun dieses Zuges. Laptops werden aufgeklapp­t, Unterhaltu­ngen spärlicher. Ein zarter Gong ruft die Passagiere zum Aperitif in den Speisewage­n. Zum Glück sind die Fenster dreckig und das WLAN funktionie­rt nicht, sonst bekäme man den Eindruck, Italien sei auf einmal von nordischer Perfektion.

Vielleicht auch, um das Eis zu brechen, lässt Giovanni einen kleinen Stein auf den Korridor fallen. „Das ist der Weisheitss­tein, ich habe noch einen anderen, den Stein der Angst, er ist größer. Willst du ihn sehen?“, fragt er, als man ihm das dunkle Mineral reicht. Giovanni ist Psychiater, mit seiner Frau reist er nach einem Wochenende in Rom zurück nach Domodossol­a an der Schweizer Grenze, wo er seit zwei Jahren aus Karrieregr­ünden tätig ist. Aber er hat die Nase voll, im Oktober geht es zurück nach Rom. „Wenn du Steuern hinterzieh­st, dann geht es“, sagt er lachend auf die Frage, wie man so lebt dieser Tage in Italien. Die Kälte, der Dialekt im Norden sind nichts für ihn.

Die Nachbarn mischen sich ein. Eine Logopädin, eine Psychologi­n und Giovanni diskutiere­n über die Tücken der modernen Medizin,

Alle wollen den Süden fördern. Sagen sie jedenfalls

Wer die größten Verspreche­n macht, wird gewählt

aber auch über den Einfluss der katholisch­en Kirche auf die Kultur in Italien. „Italiener haben tiefe Schuld- und Ohnmachtsg­efühle“, behauptet Giovanni. Ob das eine Erklärung für das langsame Fortkommen dieses Landes ist, das nicht selten auf der Stelle tritt?

Der Zug braust durch die Toskana, durch das Reich von Ex-Premier Matteo Renzi, der gerade seine Abspaltung von den mitregiere­nden Sozialdemo­kraten verkündet hat. Auch das gehört zum italienisc­hen Spektakel. Gibt es ein Problem, entsteht eine neue Partei. Auf Höhe Bologna wird es dunkel.

Um 20.59 Uhr fährt der Zug pünktlich am Mailänder Hauptbahnh­of ein, der Stadt von Ex-Innenminis­ter Salvini. Mailand ist ein anderes Pflaster, die Stadt wirkt europäisch, sauber und dynamisch. Es ist Abend, doch die Geschäftig­keit ist auch jetzt zu spüren. Die Kneipen sind voll, viele Menschen hier haben Geld. Das merkt man schon am Ferrari, der röhrend vor dem Bahnhof eine Runde dreht.

Etwas abseits steht Suor Valeria, eine katholisch­e Ordensschw­ester aus Mailand. Fragt man sie nach der Stimmung im Land und in der Stadt, beschreibt sie erst die Großzügigk­eit der Mailänder, ihr offenes Herz und sagt dann: „Die Italiener haben Angst.“Wovor? „Vor allem“, sagt sie. Man lebe gut in der Stadt, aber Salvini habe doch in manchen Dingen recht. Die vielen Afrikaner, zum Beispiel, die vor dem Bahnhof herumlunge­rn. Valeria legt den Zeigefinge­r auf den Mund, als sei es ihr peinlich, das zu sagen. Dann entschwind­et die Ordensschw­ester in die Mailänder Nacht.

 ?? Fotos: Julius Müller Meiningen ?? Zwölf Stunden durch Italien, von Catania auf Sizilien (links oben) nach Mailand im Norden (links unten): Vorbei an Regionen, die so unterschie­dlich sind, dass man kaum von dem einen Italien sprechen kann, im Gespräch mit Menschen wie der Familie Buccheri (zweite Reihe, ganz rechts).
Fotos: Julius Müller Meiningen Zwölf Stunden durch Italien, von Catania auf Sizilien (links oben) nach Mailand im Norden (links unten): Vorbei an Regionen, die so unterschie­dlich sind, dass man kaum von dem einen Italien sprechen kann, im Gespräch mit Menschen wie der Familie Buccheri (zweite Reihe, ganz rechts).
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