Mittelschwaebische Nachrichten

Einer der gefährlich­sten Konflikte der Welt

Hintergrun­d Die Kaschmir-Region war bereits Kriegsscha­uplatz zwischen Indien und Pakistan. Zwei Nuklearmäc­hte stehen sich gegenüber und dennoch schenkt die Welt dem Krisenherd kaum Beachtung. Nun droht eine neue Eskalation

- VON JONAS VOSS

Augsburg Im Sommer verwandelt­e sich die Region Kaschmir in ein gewaltiges Gefangenen­lager. Sieben Millionen Menschen wurden unter Hausarrest gestellt, kein Internet, kein Telefon. Es herrschte Nachrichte­nsperre. Über eine halbe Million indische Soldaten sind in dem Grenzgebie­t zwischen den Atommächte­n Indien, Pakistan und China stationier­t. Nicht in Syrien, nicht im Jemen, nicht in der Ukraine – in Kaschmir spielt sich derzeit einer der gefährlich­sten Konflikte der Welt ab. Ein Konflikt, der auf die Teilung des Subkontine­nts 1947 zurückzufü­hren ist. Fünf Kriege wurden seither um die Region geführt, vier zwischen Pakistan und Indien, einer zwischen Indien und China. Seit die indische Regierung dem von ihr kontrollie­rten Bundesstaa­t Jammu und Kaschmir seinen Sonderstat­us entzogen hat, kommt es zu Auseinande­rsetzungen zwischen indischen Sicherheit­skräften und der mehrheitli­ch muslimisch­en Bevölkerun­g. Warum also ist Kaschmir immer wieder Schauplatz der indisch-pakistanis­chen Feindschaf­t?

Als die Briten den riesigen Subkontine­nt 1947 verließen, teilten sie das frühere Kronjuwel ihres Kolonialre­ichs entzwei. Im Norden sollten die Muslime leben, im Süden Hindus. Die Geburtsstu­nde der modernen Staaten Indien und Pakistan. Doch weil in beiden Staaten auch Millionen Andersgläu­bige lebten, kam es zu brutalen Vertreibun­gen, Vergewalti­gungen und Massakern. Bis zu eine Million Menschen sollen den Tod gefunden haben, mehr als 20 Millionen verloren ihre Heimat. In Kaschmir spekuliert­e der dortige Herrscher zu dieser Zeit auf einen eigenen, unabhängig­en Staat – musste diesen Plan jedoch rasch aufgeben. Letztlich schloss er sich Indien an, was Pakistan nicht akzeptiert­e. Im Herbst 1947 brach der erste Krieg aus, 1999 der letzte.

Heute ist die Region aufgeteilt in einen indischen Süden, einen pakistanis­chen Norden und einen östlichen Zipfel, der zu China gehört. Der indische Bundesstaa­t heißt offiziell „Jammu und Kaschmir“. Es ist der einzige Bundesstaa­t Indiens, in dem Muslime die Bevölkerun­gsmehrheit stellen. Das passt vor allem einem Mann nicht: Narendra Modi, Hindu-Nationalis­t und indischer Premiermin­ister. Vor kurzem hat seine zweite Amtszeit begonnen, in seiner ersten verfolgte er ein nationalis­tisches, in Teilen rassistiwi­rtschaftli­che sches Programm. Gegen Kritiker seiner populistis­chen Politik geht Modi rigide vor. Die Wirtschaft wächst zwar, zu dringend benötigten grundlegen­den Reformen konnte sich der Premier bisher aber nicht entschließ­en. Modi schwärmt von alten Hindu-Großreiche­n, betrachtet Muslime meist als Terroriste­n und verlässt sich auf die „Rashtriya Swayamseva­k Sangh“, wenn es um Einschücht­erung seiner Gegner geht. Hierbei handelt es sich um eine rechtsextr­eme paramilitä­rische Einheit, die 1925 von nationalis­tischen Hindus nach dem Vorbild von Mussolinis Schwarzhem­den gegründet wurde. Der 68-Jährige ist selbst Mitglied. Die Truppe verachtet alles, was nicht hinduistis­ch ist.

Der Premier legte die Zündschnur, die das Pulverfass Kaschmir zur Explosion bringen könnte, am 5. August. An diesem Tag verstieß seine Regierung einseitig gegen die Grundbedin­gungen des Beitrittsa­bkommens von 1947. Die garantiert­en dem neu gegründete­n Bundesstaa­t unter anderem weitgehend­e Autonomie, eine eigene Verfassung und Flagge. Diesen Sonderstat­us hob die Regierung auf. Außerdem machte Modi per Gesetz aus einem Bundesstaa­t zwei.

Pakistan reagierte empört auf die indischen Pläne und wies den indischen Botschafte­r in Islamabad aus. Zugleich erklärte es, den bilaterale­n Handel aussetzen und den „illegalen, einseitige­n“Schritt Indiens vor den UN-Sicherheit­srat bringen zu wollen. Imre Khan, der Premiermin­ister Pakistans, drohte mit der „nachdrückl­ichsten“Antwort auf Indiens Politik, zu der Pakistan in der Lage sei. Ein Krieg liege in der Luft, Pakistan sei nicht der Aggressor. Währenddes­sen befand sich Modi auf Dienstreis­e in Russland, internatio­nale Kritik am Vorgehen der indischen Regierung in Kaschmir verbat er sich.

In Indien stehen die Menschen zumeist hinter Modis Entscheidu­ng, die er als eine Art Entwicklun­gshilfe für die Region bezeichnet. Nur eine engere Bindung an Indien könne der Korruption und Gewalt ein Ende setzen und für Wachstum und Wohlstand sorgen, begründete Modi seine Entscheidu­ng. Und tatsächlic­h: Wegen der strengen Gesetze gegenüber Nichtmusli­men gab es in Kaschmir über Jahre nur wenig Entwicklun­g, hunderttau­sende Pandits – eine hinduistis­che Minderheit in Kaschmir – wurden in den neunziger Jahren vertrieben. Sie leben heute in Flüchtling­slagern in der Stadt Jammu, ohne Hilfe von der indischen Regierung, und nähren die nationalis­tischen Gefühle Indiens. Mit ihnen ging ein Großteil der Wirtschaft­skraft. So entstand eine seit 30 Jahren andauernde Spirale aus Gewalt und Gegengewal­t. Mehr als 70 000 Menschen sollen dabei umgekommen sein.

Die Frage allerdings ist, wie Modi Kaschmir entwickeln will, wenn dort plötzlich hunderttau­sende Soldaten aufmarschi­eren und die Bewohner über keine modernen Kommunikat­ionsmittel verfügen. Es ist schwierig festzustel­len, was genau in der abgeriegel­ten Region vor sich geht. Vor allem ausländisc­he Medien, aber auch indische und pakistanis­che Blogger, berichten von Gewalttate­n gegenüber der Zivilbevöl­kerung, Toten bei Schusswech­seln und schlimmen hygienisch­en Zuständen. Auf Twitter melden sich Aktivisten zu Wort, deren Inhalte kaum zu überprüfen sind. In erster Linie sei Indien für Gewalttate­n verantwort­lich, was dessen Regierung zurückweis­t. Die indische Presse äußert sich verhalten zur aktuellen Kaschmir-Krise. Und die Mehrzahl der Kommentato­ren ist mit dem Vorgehen Modis prinzipiel­l einverstan­den, von deutlicher Kritik ist nichts zu lesen.

Heute ist der gesamte Subkontine­nt von einem nationalis­tischen Fieber ergriffen – nur dass die befallenen Staaten keine militärisc­hen Schwächlin­ge sind, sondern hochgerüst­ete Nuklearmäc­hte.

Die Blockade Kaschmirs lockert sich inzwischen. Die Gefahr, dass die Gewalt aus Kaschmir unkontroll­iert auf die beiden Nationen Indien und Pakistan übergreift, ist damit aber nicht gebannt. Einen Krieg will wohl keine Seite, denn die beiden Regionalmä­chte haben viel zu verlieren. Indien würde durch einen Krieg ökonomisch weit zurückgewo­rfen werden. Der Subkontine­nt ist so integriert in globale Wertschöpf­ungsketten und abhängig von Importen, dass einer Eskalation folgende Sanktionen und andere Maßnahmen das Land ebenso wie Pakistan empfindlic­h schwächen würden. Aufatmen kann die Welt aber nicht: Denn jemand, der die Nuklearmäc­hte Pakistan und Indien bremsen und an den Verhandlun­gstisch bringen könnte, ist nicht in Sicht.

Pakistan zeigt sich entsetzt über die Pläne Indiens

 ?? Foto: Mukhtar Khan, dpa ?? Muslime in Kaschmir protestier­en gegen die Entscheidu­ng Indiens, der Region ihre Autonomie zu entziehen.
Foto: Mukhtar Khan, dpa Muslime in Kaschmir protestier­en gegen die Entscheidu­ng Indiens, der Region ihre Autonomie zu entziehen.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany