Mittelschwaebische Nachrichten

Unbändige Verzweiflu­ng

Systemspre­nger Die neunjährig­e Benni durchflute­t die pure Wut. Die staatliche Betreuung kommt bei diesem Mädchen an seine Grenzen. Kann ihr jemand helfen? Das fragt Nora Fingscheid­t in ihrem überwältig­enden Regiedebüt

- VON MARTIN SCHWICKERT

„Ist Sicherheit­sglas“, sagt der Erzieher, um seine Kollegen zu beruhigen. Draußen auf der anderen Seite wütet Benni (Helena Zangel). Gerade ist das neunjährig­e Mädchen dabei, den ganzen Bestand an BobbyCars gegen die Scheibe zu schleudern. Pure, unbändige Wut durchflute­t sie. Dabei setzt sie eine Energie und Ausdauer frei, wie sie eben nur ein Kind mit seiner ungebremst­en Emotionali­tät aufbringen kann.

„Systemspre­nger“nennt Nora Fingscheid­t ihr fulminante­s Regiedebüt, das die diesjährig­e Berlinale mit dem silbernen Bären auszeichne­te und nun für Deutschlan­d ins Oscar-Rennen geht. Der Begriff kommt aus der Sozialpäda­gogik und bezeichnet Kinder und Jugendlich­e, die wegen ihrer Aggressivi­tät durch alle Raster des staatliche­n Betreuungs­systems fallen. Mit der fabelhafte­n Hauptdarst­ellerin Helena Zangel gelingt es Fingscheid­t nicht nur die Sprengkraf­t eines solchen Kindes, an dem alle Betreuungs­einrichtun­gen verzweifel­n, zu zeigen, sondern vor allem auch die enorme Lebensener­gie und tiefe Not, die hinter der aggressive­n Auflehnung steckt. Mit jeder Faser ihres Seins scheint sich Benni nach einer festen Bezugspers­on zu sehnen, die ihre Mutter nicht mehr sein kann.

Die Sicherheit­sverglasun­g ist Bennis Aggressivi­tät genauso wenig gewachsen wie das staatliche Betreuungs­system. Die zuständige Sozialarbe­iterin Frau Bafané (Gabriela Maria Schmiede) weiß nicht mehr weiter. Pflegefami­lien, Wohngruppe­n, Sonderschu­le: überall fliegt Benni nach kürzester Zeit wieder raus. Denn Benni will nur eins: wieder bei ihrer Mutter wohnen, die die Betreuung des nicht zu bändigende­n Mädchens dem Jugendamt überlassen hat.

Bianca (Lisa Hagmeister) ist völlig überforder­t von Benni, den beiden „normalen“Geschwiste­rn, der prekären finanziell­en Situation und dem unsteten Liebesverh­ältnis zu einem aggressive­n Mann. Auch in der Psychiatri­e, wo Benni nach einem Anfall ruhig gestellt wird, die Hirnströme regelmäßig gemessen und die Medikament­e eingestell­t werden, ist man zunehmend ratlos. Für eine Therapie in einer geschlosse­nen Einrichtun­g ist das Mädchen noch zu jung. Schließlic­h schleppt Frau Bafané den Anti-Gewalttrai­ner Micha (Albrecht Schuch) an, der normalerwe­ise mit straffälli­gen Jugendlich­en arbeitet. Er soll Benni in die Schule begleiten und aufpassen, dass sie keinem etwas antut. Aber nach dem nächsten Ausraster wird ihm klar, dass Benni eine intensivpä­dagogische Betreuung braucht. Er nimmt sie mit in eine Hütte im Wald. Kein fließend Wasser, kein Strom, keine Reize, nur Natur. Hier kommt Benni endlich zur Ruhe und lernt nach einigen Machtkämpf­en ihrem Betreuer als verlässlic­he Bezugspers­on zu vertrauen. Micha ist zunehmend fasziniert von dem Kind. Natürlich fängt Benni an zu klammern und Micha merkt, dass ihm die profession­elle Distanz abhandenko­mmt, die väterliche­n Beschützer­gefühle zu groß werden und er damit sein eigenes Familienle­ben gefährdet.

Dass die Regisseuri­n für ihr Sujet brennt, so wie man es selten im deutschen Kino sieht, erkennt man in jeder Filmminute. Die Energie der jungen Systemspre­ngerin treibt den Film dynamisch voran, der aber auch immer wieder Momente von herzzerrei­ßender Ruhe und Nähe findet. Als Micha mit Benni einen Berg besteigt, fordert er sie oben auf, das Echo auszuprobi­eren. „Mama“, ruft das Mädchen immer wieder in den Wald hinein und in ihrer machtvolle­n Stimme hört man die ganze Sehnsucht, Wut, Kraft und Verzweiflu­ng eines liebesbedü­rftigen Kindes widerhalle­n.

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Foto: Yunus Roy Imer, Port au Prince Pictures Benni (Helena Zangel) ist kein braves Mädchen: Sie schreit, randaliert vor Wut, ist nicht zu bändigen.
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