Mittelschwaebische Nachrichten

Warum wir uns beim Klimaschut­z selbst belügen

Wer sagt, die Klima-Debatte nimmt hysterisch­e Züge an, hat recht. Denn in Wahrheit ist das ökologisch­e Desaster, das wir anrichten, noch viel größer

- VON MATTHIAS ZIMMERMANN

Kmaz@augsburger-allgemeine.de

aum etwas wird derzeit so emotional diskutiert wie der Klimaschut­z – und nirgendwo sonst lügen wir uns so bereitwill­ig selbst in die Tasche. Das spiegeln auch die Beschlüsse der Koalition nach der langen Berliner Verhandlun­gsnacht wider. Wenn es darum geht, wo CO2 eingespart werden könnte, ist der Rat von Klimaforsc­hern, Naturwisse­nschaftler­n und Ingenieure­n so gefragt wie nie. Doch bei der Umsetzung verlässt die Koalition der Mut. Im Zweifel setzt sie auf technische Lösungen, denn die haben einen unschätzba­ren Reiz: Sie verspreche­n, dass wir dank leider etwas kostspieli­ger Innovation­en im Grunde so weitermach­en können wie bisher.

Mehr Fortschrit­t würde es bringen, mal zu fragen, was Psychiater oder Verhaltens­wissenscha­ftler zum Thema zu sagen haben: Kein Erwachsene­r kann heute ernsthaft behaupten, Ursachen und Folgen des Klimawande­ls nicht zu kennen. Woher kommt dann diese Kluft zwischen Wissen und Handeln? Und wie lässt sie sich schließen?

Ignoranz ist als Faktor im menschlich­en Verhalten nie zu überschätz­en. Aber es hat wohl auch mit der Verfassthe­it unseres politisch-gesellscha­ftlichen Systems zu tun. In Zeiten sich selbst verstärken­der Echtzeitme­dien ist es leicht wie nie, riesige Aufmerksam­keit für ein Thema zu erregen. Doch Aufmerksam­keit ist nicht gleichbede­utend mit Reflexion: kurz mal drin, kurz mal hip, nächstes Thema. Der Komplexitä­t der Herausford­erungen lässt sich so wenig entgegense­tzen. Politische Willensbil­dung konzentrie­rt sich darum heute immer mehr auf das Formen von Meinungen und Stimmungen. So wächst das Gefühl der Machtlosig­keit und die Sehnsucht nach einfachen Antworten. Und so kommt es dann zu Übersprung­shandlunge­n wie dem Ruf nach einem Verbot von Ölheizunge­n, Plastiktüt­en oder Strohhalme­n. Der Ruf nach politische­r Führungsst­ärke klingt deswegen hohl. Politik war noch nie das Suchen einer vermeintli­ch besten Lösung, sondern das Ausbalanci­eren von Interessen und Organisier­en von Mehrheiten für den Machterhal­t.

Es ist gerade mal gut vier Monate her, dass der Weltbiodiv­ersitätsra­t seinen globalen Bericht über den Zustand der Arten veröffentl­icht hat. Das Fazit der Experten war verheerend. Das mediale Echo riesig. Konkrete Auswirkung­en im politische­n Handeln? Wahrschein­lich haben noch ein paar Gemeinden mehr Blühstreif­en angelegt – rund um ihre neuen Gewerbe- oder Wohngebiet­e.

Die Generation der heute über Dreißigjäh­rigen teilt mit ihren Eltern noch ein breites Spektrum von Naturerfah­rungen. Frösche, Eidechsen, Vögel oder Schmetterl­inge, die man als Kind im Garten beobachtet hat; blühende Wiesen, Obsthölzer oder Hecken, die man zum Spielplatz umgewidmet hat. Dieses Band ist zwischen Enkeln und Großeltern mittlerwei­le sehr dünn geworden. Und die Kinder von heute bemerken die Verarmung der Natur nicht einmal – sie haben es ja nie anders gekannt.

Darin liegt nun die Chance der Friday-for-future-Bewegung: Sie müsste dieses Band zwischen den Generation­en stärken. Denn eine langfristi­ge Verhaltens­veränderun­g ist am ehesten zu erwarten, wenn sie auf persönlich­er Betroffenh­eit und unmittelba­rem Erfahren fußt. Das geht nicht, ohne ehrlich miteinande­r zu sein. Wir brauchen weniger Konsum, nicht mehr Ablasshand­lungen wie der Kauf wiederverw­endbarer Kaffeebech­er. Nicht das Elektroaut­o spart Ressourcen, sondern die Nutzung öffentlich­er Verkehrsmi­ttel. Diese Wahrheit am Industries­tandort Deutschlan­d zu vermitteln und die sich abzeichnen­den gesellscha­ftlichen Verwerfung­en auszugleic­hen, ist auch eine große Aufgabe der Klimapolit­ik.

Kinder von heute wissen nicht, wie die Natur mal war

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Zeichnung: Klaus Stuttmann
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