Mittelschwaebische Nachrichten
Warum wir uns beim Klimaschutz selbst belügen
Wer sagt, die Klima-Debatte nimmt hysterische Züge an, hat recht. Denn in Wahrheit ist das ökologische Desaster, das wir anrichten, noch viel größer
Kmaz@augsburger-allgemeine.de
aum etwas wird derzeit so emotional diskutiert wie der Klimaschutz – und nirgendwo sonst lügen wir uns so bereitwillig selbst in die Tasche. Das spiegeln auch die Beschlüsse der Koalition nach der langen Berliner Verhandlungsnacht wider. Wenn es darum geht, wo CO2 eingespart werden könnte, ist der Rat von Klimaforschern, Naturwissenschaftlern und Ingenieuren so gefragt wie nie. Doch bei der Umsetzung verlässt die Koalition der Mut. Im Zweifel setzt sie auf technische Lösungen, denn die haben einen unschätzbaren Reiz: Sie versprechen, dass wir dank leider etwas kostspieliger Innovationen im Grunde so weitermachen können wie bisher.
Mehr Fortschritt würde es bringen, mal zu fragen, was Psychiater oder Verhaltenswissenschaftler zum Thema zu sagen haben: Kein Erwachsener kann heute ernsthaft behaupten, Ursachen und Folgen des Klimawandels nicht zu kennen. Woher kommt dann diese Kluft zwischen Wissen und Handeln? Und wie lässt sie sich schließen?
Ignoranz ist als Faktor im menschlichen Verhalten nie zu überschätzen. Aber es hat wohl auch mit der Verfasstheit unseres politisch-gesellschaftlichen Systems zu tun. In Zeiten sich selbst verstärkender Echtzeitmedien ist es leicht wie nie, riesige Aufmerksamkeit für ein Thema zu erregen. Doch Aufmerksamkeit ist nicht gleichbedeutend mit Reflexion: kurz mal drin, kurz mal hip, nächstes Thema. Der Komplexität der Herausforderungen lässt sich so wenig entgegensetzen. Politische Willensbildung konzentriert sich darum heute immer mehr auf das Formen von Meinungen und Stimmungen. So wächst das Gefühl der Machtlosigkeit und die Sehnsucht nach einfachen Antworten. Und so kommt es dann zu Übersprungshandlungen wie dem Ruf nach einem Verbot von Ölheizungen, Plastiktüten oder Strohhalmen. Der Ruf nach politischer Führungsstärke klingt deswegen hohl. Politik war noch nie das Suchen einer vermeintlich besten Lösung, sondern das Ausbalancieren von Interessen und Organisieren von Mehrheiten für den Machterhalt.
Es ist gerade mal gut vier Monate her, dass der Weltbiodiversitätsrat seinen globalen Bericht über den Zustand der Arten veröffentlicht hat. Das Fazit der Experten war verheerend. Das mediale Echo riesig. Konkrete Auswirkungen im politischen Handeln? Wahrscheinlich haben noch ein paar Gemeinden mehr Blühstreifen angelegt – rund um ihre neuen Gewerbe- oder Wohngebiete.
Die Generation der heute über Dreißigjährigen teilt mit ihren Eltern noch ein breites Spektrum von Naturerfahrungen. Frösche, Eidechsen, Vögel oder Schmetterlinge, die man als Kind im Garten beobachtet hat; blühende Wiesen, Obsthölzer oder Hecken, die man zum Spielplatz umgewidmet hat. Dieses Band ist zwischen Enkeln und Großeltern mittlerweile sehr dünn geworden. Und die Kinder von heute bemerken die Verarmung der Natur nicht einmal – sie haben es ja nie anders gekannt.
Darin liegt nun die Chance der Friday-for-future-Bewegung: Sie müsste dieses Band zwischen den Generationen stärken. Denn eine langfristige Verhaltensveränderung ist am ehesten zu erwarten, wenn sie auf persönlicher Betroffenheit und unmittelbarem Erfahren fußt. Das geht nicht, ohne ehrlich miteinander zu sein. Wir brauchen weniger Konsum, nicht mehr Ablasshandlungen wie der Kauf wiederverwendbarer Kaffeebecher. Nicht das Elektroauto spart Ressourcen, sondern die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel. Diese Wahrheit am Industriestandort Deutschland zu vermitteln und die sich abzeichnenden gesellschaftlichen Verwerfungen auszugleichen, ist auch eine große Aufgabe der Klimapolitik.
Kinder von heute wissen nicht, wie die Natur mal war