Mittelschwaebische Nachrichten

Rettet Heils Sozialoffe­nsive die Koalition?

Grundrente­n-Kompromiss, Arbeitszei­t-, Hartz- und Kindergeld-Reform: Der SPD-Minister will mit dutzenden Gesetzespl­änen die Handschrif­t seiner Partei klarer machen, wohl auch, damit seine Parteibasi­s nicht die GroKo kündigt

- Basil Wegener, dpa

Berlin Bundesarbe­itsministe­r Hubertus Heil holt zum großen Aufschlag für Arbeitnehm­er und Geringverd­iener in Deutschlan­d aus. Mit knapp drei Dutzend Vorschläge­n wartet der SPD-Mann am Freitag im schicken Berliner Gasometer auf, einer Vorzeige-Location für den Strukturwa­ndel. Von mehr Unterstütz­ung für von Armut bedrohte Kinder bis zu mehr Freiheit für die eigene Zeiteintei­lung der Beschäftig­ten fächert Heil sein Zukunftspr­ogramm auf. Heil nimmt für sich in Anspruch, dass die Ideen nicht im Hinterzimm­er seines Ministeriu­ms ausgetüfte­lt worden seien – sondern in einer monatelang­en Tour mit Veranstalt­ungen in ganz Deutschlan­d. Was will Heil – und wie stehen die Chancen auf Umsetzung?

„Wir wollen dafür sorgen, dass Menschen etwas aus ihrem Leben machen können“, kündigt der Minister an. Auch andere SPD-Kabinettsm­itglieder, von Finanzmini­ster Olaf Scholz über Umweltmini­sterin Svenja Schulze bis zur Justizmini­sterin Christine Lambrecht, reden derzeit viel davon, dass ihre Partei ganz konkret das Leben der Menschen verbessern wolle – wohl auch ein Signal an die Basis der Sozialdemo­kraten, die auf einem Parteitag im Dezember in einer Halbzeitbi­lanz auch über den Fortbestan­d der Großen Koalition entscheide­n soll.

Die SPD-Minister, so viel scheint schon jetzt klar, haben ihre Lust am Regieren nicht verloren. Im Gegenteil. Sozialmini­ster Heil hat offenbar sein wichtigste­s und schwierigs­tes Projekt hinter den Kulissen bereits eingetütet: einen Kompromiss für die Grundrente. Die Union hatte den geplanten Aufschlag auf Kleinrente­n ohne Bedürftigk­eitsprüfun­g Die solle es auch künftig nicht geben, als Kompromiss könnte es aber nun eine Einkommens­grenze geben, die unbürokrat­isch über die Finanzämte­r abgefragt werden soll.

Doch Heil hat noch mehr vor: Möglichst viele aktive Arbeitnehm­er sollen von persönlich­en Zeitkonten profitiere­n Ob Mehrarbeit, Überstunde­n oder nicht genutzte Urlaubstag­e – die Beschäftig­ten sollen Arbeitszei­t einzahlen können, die sie zu viel geleistet haben. Angesparte Zeit soll etwa für Betreuung und Pflege von Angehörige­n genutzt werden können, für Weiterbild­ung oder Ehrenamt. Die Auszeiten sollen staatlich gefördert werden. Derzeit lässt Heil einen Rechtsansp­ruch auf die Einrichtun­g eines Zeitkontos prüfen. Verwaltet werden sollen die Konten dem Vorschlag zufolge vom Staat. Die Umsetzung dieser und anderer Ideen dürfte aber nicht einfach werden. Heils Ministeriu­m erwägt zudem die Einführung eines gesetzlich­en Anspruchs auf mobile Arbeit etwa für Homeoffice. Arbeitgebe­rpräsident Ingo Kramer hält davon nichts. Er warnt vor einem „Eingriff in die unternehme­rische Freiheit“.

Am konkretest­en ist Heils Plan für einen Beschäftig­ungsschutz auch in einer drohenden konjunktur­ellen Krise. Unter anderem will er den Einsatz von Kurzarbeit­ergeld erleichter­n. Ein sogenannte­s Arbeitabge­lehnt. von-morgen-Gesetz will Heil Ende Oktober vorlegen und den Arbeitsmar­kt zugleich für den Strukturwa­ndel durch Digitalisi­erung und neue Technologi­en fit machen. So soll Kurzarbeit mit Weiterqual­ifizierung verbunden werden.

Unterstütz­ung von Wohlfahrts­verbänden bekommt Heil für die vorgeschla­gene Kindergeld­reform. Das bisherige Kindergeld soll mit dem weniger verbreitet­en Kinderzusc­hlag zusammenge­führt werden. Geringverd­ienende Eltern sollen eine Unterstütz­ung auf dem Niveau des Existenzmi­nimums erhalten. Bei höheren Einkommen soll das Niveau der Leistung bis zum bisherigen Kindergeld gesenkt werden.

Für Hartz-IV-Bezieher soll in der Anfangszei­t der Bedürftigk­eit die Angst wegfallen, aus ihrer Wohnung ausziehen zu müssen. Heil führte eine Begegnung mit einem alleinerzi­ehenden Mann in Essen an, der sich um seinen behinderte­n Sohn kümmerte – nach dem Tod des Sohnes habe er eine Aufforderu­ng vom Jobcenter bekommen, in eine kleinere Wohnung zu ziehen. „So etwas dürfen wir in diesem Land nicht mehr zulassen.“Sein Vorschlag: Die Jobcenter sollen in den ersten zwei Jahren der Grundsiche­rung nicht mehr prüfen, ob Betroffene eine unangemess­en große Wohnung haben, und sich auf die Förderung für einen neuen Job konzentrie­ren.

Geringverd­iener will Heil mit bis zu 100 Euro monatlich bei den Sozialvers­icherungsb­eiträgen bezuschuss­en. Und um die Gewerkscha­ften zu stärken, sollen sich Mitgliedsb­eiträge an Gewerkscha­ften künftig etwa als Sonderausg­aben tatsächlic­h steuermind­ernd auswirken. Denn sehr viele Arbeitnehm­er kommen mit ihren Werbungsko­sten nicht über den Pauschbetr­ag von 1000 Euro hinaus.

Nicht ohne Pathos verkündet der SPD-Minister: „Ich will, dass wir nicht nur reden, ich will, dass wir handeln.“Doch er räumt ein, die Hauptfrage laute: „Was kriegt die Große Koalition noch hin?“Von der Union kommen zunächst kaum Reaktionen – und wenn, dann fallen sie kritisch aus. Von den Vorschläge­n dürfte einiges in der zweiten Halbzeit der Legislatur­periode auf den Tisch kommen, wenn die GroKo hält. Andernfall­s blieben der SPD zumindest Argumente im Wahlkampf.

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Foto: Pedersen, dpa Arbeitsmin­ister Heil: „Wir wollen dafür sorgen, dass Menschen etwas aus ihrem Leben machen können.“

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