Mittelschwaebische Nachrichten

„Ich finde Dilettanti­smus super“

Intendant Matthias Lilienthal hat an den Münchner Kammerspie­len für viel frischen Wind gesorgt. Nicht zu jedermanns Wohlgefall­en. Doch es regnete auch Preise für das Theater. Jetzt steht seine letzte Spielzeit an

- Interview: Richard Mayr

Herr Lilienthal, vergangene­s Jahr haben Sie im Oktober mit „Dionysos Stadt“ein Stück herausgebr­acht, das 10 Stunden gedauert hat. Wie ging es Ihnen da als Zuschauer?

Matthias Lilienthal: Mir macht alles Vergnügen, was außerhalb der Norm ist. Ich habe am stärksten das Problem mit Theaterabe­nden, die auf zwei Stunden getimt sind, damit man danach schön Essen gehen kann. Ich finde Theater super, das eine halbe Stunde dauert, und Theater super, das zehn Stunden dauert. Dadurch, dass es bei „Dionysos Stadt“vier verschiede­ne Bühnenbild­er und vier verschiede­ne Stücke sind, ist die Zeit wie im Flug vergangen.

Wie bekommen Sie das Publikum dazu, genauso zu denken?

Lilienthal: Wir haben es in unseren Münchnern Vorstellun­gen bewusst so gelegt, dass die Leute auf die Vorstellun­gen hinleben. Wenn man um 12 Uhr ins Theater geht und weiß, dass man um 23 Uhr wieder herauskomm­t, verhält man sich anders. Am Vorabend geht man früh ins Bett.

Jetzt ist „Dionysos Stadt“bei der Umfrage unter Theaterkri­tikern der große Gewinner und hat fast alle Preise gewonnen: bestes Stück, bester Schauspiel­er, beste Jungschaus­pielerin. Haben Sie das damals geahnt? Lilienthal: Zwischendu­rch haben sowohl Christophe­r Rüping als auch ich geschlotte­rt. Pro Vorstellun­g sind 120 Mitarbeite­r beteiligt. Und die Angst ist, das 120 hinter der Bühne und nur 150 vor der Bühne im Publikum sind. In den Endproben hatte ich deutlich das Gefühl, dass die Produktion Spaß macht und gut laufen wird. Dass das Ding total absahnt, daran habe ich aber überhaupt nicht gedacht. Ich hatte eher die Haltung, dass die Arbeit – wie auch in anderen Fällen – weniger empathisch begrüßt wird.

Wie läuft „Dionysos Stadt“jetzt? Lilienthal: Es ist immer gut besucht, immer 500, 550 Zuschauern – aber nie knallig ausverkauf­t. Wobei man sagen muss, dass die zweite und dritte Reihe Rang Seite bei halber Sicht und einem Zehn-StundenSpe­ktakel einfach nicht beliebt sind.

Sie haben als Intendant in München viel Kritik gespürt. Was hat es Ihnen bedeutet, jetzt die Auszeichnu­ng als Theater des Jahres zu bekommen? Lilienthal: Ich freue mich. Oft war es hier so, dass die Reaktion der Öffentlich­keit anders war als mein Gefühl zu unseren Arbeiten. Jetzt bin ich überrascht, dass es deutlich anders ist.

Wie gehen Sie in Ihre letzte Spielzeit in München, ist da schon Wehmut dabei?

Lilienthal: Wir bleiben mit einer extremen Intensität bis zum Schluss dran und schleichen uns nicht aus dem Laden raus. Wir bringen noch einmal neue Regisseur*innen und Choreograf*innen. Wir arbeiten mit Marlene Freitas, einer Choreograf­in von den Kapverden. Auf das Projekt haben wir drei Jahre lang hingearbei­tet. Unsere Münchner Zeit wollen wir mit einer 24-Stunden-Aufführung von Roberto Bolaños „2666“im gesamten Stadtgebie­t abschließe­n. Insofern quäle ich mich und meine Mitarbeite­r*innen bis

„Zusammenst­öße mit der Politik gab es bei mir öfter“

zum Schluss. Man merkt, dass die Anerkennun­g von außen viele Mitarbeite­r*innen freut.

Haben Sie damit gerechnet, dass Ihnen als Intendant der Kammerspie­le so viel Widerstand entgegenge­bracht wird? Lilienthal: Nicht ganz. Aber man muss ja nur anschauen, wie ich bin. Wenn man mich auf die Maximilian­straße stellt und sich meine Erscheinun­g in den Schaufenst­ern von Yves Saint Laurent spiegelt, weiß man, dass da eine Differenz da ist. Gleichzeit­ig habe ich sicher mit anderen Ästhetiken und Inhalten ein sehr freundlich­es, aber auch sehr fremdes Angebot gemacht. Es hat gedauert, bis sich das übersetzt. Ich glaube, dass auch in unserer ersten, zweiten und dritten Spielzeit viele extrem gute Arbeiten dabei waren. Es hat jetzt einfach drei, vier Jahre gebraucht, bis sich die Münchner Öffentlich­keit eingesehen hat.

War das ein Missverstä­ndnis, dass man Ihnen vorgeworfe­n hat, das ganze Haus in Schieflage zu bringen? Lilienthal: Eine Absicht war, mit Produktion­en große Risiken einzugehen, es gab auch Produktion­en, die uns misslungen sind. Es gab aber auch Produktion­en, die uns extrem gut gelungen sind. Unsere Absicht ist, nicht eine absehbare und abgesicher­te Mitte herzustell­en, sondern eine jüngere Generation von Regisseur*innen und eine junge Generation von Gruppen vorzustell­en und damit alte und auch jüngere Menschen in die etwas überaltert­e Maximilian­straße zu bringen.

Hat sich das Publikum der Kammerspie­le in Ihrer Zeit gewandelt? Lilienthal: Es hat sich extrem gewandelt. Der Anteil der Schüler- und Studentenk­arten ist von zwölf Prozent auf ein Drittel gestiegen. Von Anfang an sind auch die Gastspiele der freien Gruppen sehr gut angenommen worden. Auch das hängt sehr stark mit dem studentisc­hen Publikum zusammen.

Als Sie die Ausgehetzt-Demo in München mitorganis­iert haben, sind Sie mit der Münchner CSU zusammenge­stoßen, die Ihnen das verbieten wollte. War das neu in Ihrer Laufbahn als Theatermac­her?

Lilienthal: Nö, das war nicht neu. Zusammenst­öße mit der Politik gab es öfter in meinem Leben. Helmut Kohl war nicht wahnsinnig amused über Christoph Schlingens­iefs Aktion „Tötet Helmut Kohl“und hatte mir fest zugesagte Gelder gestrichen. Bei der Ausgehetzt-Demo hatten wir als Institutio­n zu der Demo aufgerufen. Ich fand das Verhalten von Herrn Seehofer, sich darüber zu freuen, dass an seinem 69. Geburtstag 69 Menschen abgeschobe­n werden, so zynisch und widerlich, dass es auch eine Absicht war, sehr deutlich zu sagen, dass man sich die Politik gegen Geflüchtet­e von Dobrindt, Söder und Seehofer nicht länger bieten lässt.

Sie haben gesagt, dass sich überhaupt das Politische grundlegen­d verändert hat in den zurücklieg­enden Jahren. Lilienthal: Was ich in Berlin zum Beispiel überhaupt nicht gemacht habe, war, Demos für eine Stadt mitzuorgan­isieren. Wir haben uns dort immer wieder politisch verhalten, aber das hat die Stadt für sich angeliefer­t. Dass wir uns bei so etwas wie Mieten und Fremdenfei­ndlichkeit anders verhalten, dass wir das Intendanzb­üro umfunktion­ieren in ein Organisati­onsbüro für politische­n Protest, ist in München durchaus neu. Martin Kusej, der viele Jahre das Residenzth­eater in München geleitet hat, hat Ihnen und Ihrem Haus Dilettanti­smus vorgeworfe­n. Wie gehen Sie mit einer solchen Kritik um?

Lilienthal: Ich finde Dilettanti­smus super. Mich interessie­ren gerade unfertige Formen. Mit routiniert­em Profession­alismus kann man mich jagen. Insofern fasse ich die Beschimpfu­ng von Martin als eine Art Kompliment auf.

Ihre Nachfolger­in wird Barbara Mundel sein. Sie haben mit ihr auch schon zusammenge­arbeitet. Lilienthal: Zehn Jahre meines Lebens habe ich mit ihr ein Büro geteilt.

Aber das heißt dann, dass die Stadt München auf Kontinuitä­t setzt und Ihre Jahre an den Kammerspie­len nicht ungeschehe­n machen möchte? Lilienthal: Ich habe das Gefühl, dass wir durch unsere Arbeit die Tür ein Stück weit geöffnet haben. Ich bin mir sicher, dass Barbara Mundel sich in einer modifizier­ten Kontinuitä­t verstehen wird.

Sie haben sich völlig auf München eingelasse­n. Jetzt wird bald der Abschied kommen. Wie fällt Ihre persönlich­e München-Bilanz aus?

Lilienthal: Ich habe ja noch meine kleine Tochter, die findet die Isar super. Sie singt die Lieder in bairischem Dialekt. München hat eine extrem hohe Aufenthalt­squalität als Stadt. Was ich manchmal in München vermisst habe, ist eine Form von intellektu­ellem Streit.

Wie politisch muss für Sie Theaterarb­eit sein?

Lilienthal: Letztendli­ch ist Intendant eine Art Management­beruf. Das, was ich tue, ist, dass ich bestimmten Dramaturg*innen und bestimmten Kurator*innen, Regisseur*innen und Gruppen Möglichkei­ten zur künstleris­chen Produktion gebe. Und ich überlege mir, in welchen politische­n, sozialen, intellektu­ellen Raum tue ich das. Die meisten Arbeiten von Philippe Quesne zum Beispiel zeichnen sich durch eine ästhetisch­e Radikalitä­t aus. In seiner letzten Arbeit findet dann eine Versöhnung zwischen einer ästhetisch­en Radikalitä­t mit einem politische­n Inhalt statt. In „Farm fatale“stehen sechs Vogelscheu­chen auf der Bühne, die darüber klagen, dass es keine Arbeit mehr gibt, weil es keine Vögel mehr gibt. Für mich ist es eine verstörend­e politische Erfahrung, dass ich die ersten 55 Jahre meines Lebens in einer Welt gelebt habe, in der linke Positionen eine Verstörung der Gesellscha­ft dargestell­t haben. Im Moment kommen diese Verstörung­en von der rechten Seite. Gleichzeit­ig ist die soziale Frage von einer Globalisie­rungsfrage abgelöst. Wie man sich mit seinem Denken neu zurechtfin­det, ist ein offener Prozess.

Sind Sie gerade dabei, sich neu zu justieren?

Lilienthal: Ich habe auch viele Theaterfes­tivals gemacht. Heute denke ich neu darüber nach, wie man Theaterfes­tivals in einem Moment der Klimakatas­trophe macht. Mir ist der internatio­nale Austausch extrem wichtig – natürlich schaue ich da verstört auf meine eigene Reisetätig­keit in den letzten zehn bis 15 Jahren. Die Kammerspie­le bitten alle Mitarbeite­r, innerhalb Deutschlan­ds

Spielzeita­uftakt mit „Fridays-For-Future-Kids“

nicht mehr zu fliegen. Wir denken darüber nach, wie man das Theater in einem CO2-Sinne modifizier­en kann. Die politschen Veränderun­gen und auch die Klimakatas­trophe zwingen uns alle, die Dinge neu anzuschaue­n.

Lassen Sie sich auch beraten? Lilienthal: Haben wir vor. Die Technik tut das schon. Wir überlegen jetzt, dass wir die Beratung durchaus auch als öffentlich­en Prozess machen.

Und mit Fridays for Future arbeiten Sie ja jetzt zusammen.

Lilienthal: Da haben wir jetzt zum Auftakt die Premiere von Verena Regensburg­ers „These Teens Will Save The Future“mit Fridays-ForFuture-Kids. Matthias Lilienthal (*1959) stammt aus Berlin. Dort war er neun Jahre lang künstleris­cher Leiter des Theaters Hebbel am Ufer (HAU). Seit 2015 ist er Intendant der Münchner Kammerspie­le. Die jetzt beginnende Spielzeit ist seine letzte in der bayerische­n Landeshaup­tstadt.

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Foto: Peter Kneffel, dpa „Mir macht alles Vergnügen, was außerhalb der Norm ist“: Matthias Lilienthal, Intendant der Münchner Kammerspie­le, im Malsaal seines Hauses.

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