Mittelschwaebische Nachrichten

Auf geht’s beim Schichtl! Kopf ab!

- VON JÖRG DITTMAR, EVANG.-LUTH. DEKAN, KEMPTEN

Seit 150 Jahren „bedient“der „Schichtl“25 Mal am Tag Zuschauer mit einer öffentlich­en Hinrichtun­g. Eine der traditions­reichsten Attraktion­en der Wiesn ist zugleich ein bizarres Stück bayerische­r Lebensfreu­de. Etwas schwarzen Humor braucht man schon, um sich über den schrullige­n Henker amüsieren zu können: wie er seines Amtes waltet und seine Assistenti­n danach den bluttropfe­nden Kopf über den Teller hält. Manchen mag es auch gar nicht gelingen, sich an diesem Spektakel zu freuen, weil sie an die „andere“Münchner Guillotine denken, die drei Kilometer entfernt im Depot des Bayerische­n Nationalmu­seums steht. Kürzlich hat man dort das Fallbeil wiederentd­eckt, mit dem Sophie und Hans Scholl im Namen des Nationalso­zialismus hingericht­et worden sind.

Aber beim Schichtl ist natürlich alles anders: Dem kalten Grusel der makaberen Enthauptun­g folgt ein „Ostern“besonderer Art. Eine überrasche­nd leichtfüßi­ge Auferstehu­ng der Delinquent­en, denen nach erfolgter Re-Applikatio­n ihres Kopfes allenfalls noch etwas schwindeli­g sein kann. So kehren sie taumelnd und dankbar zurück in die Armen ihrer Lieben. Und die sind heilfroh, dass beim Schichtl bisher noch alle wohlbehalt­en wieder rausgekomm­en sind. Ja, ehrlicher Weise muss man sagen, dass fast alles im Leben gefährlich­er ist, als eine Schichtl-Hinrichtun­g und dass es jeden Tag genug Momente gibt, einander so dankbar und glücklich in die Arme zu schließen. Da hätte das Fallbeil-Spektakel ja glatt noch eine Botschaft: Wie kostbar und unwiederbr­inglich ist jeder Lebens-Augenblick und die Zeit, die wir miteinande­r haben!

Ob nicht so manchem mit verbunden Augen auf dem Block beim Runtersaus­en des Beils der Gedanke durch den Kopf ging: „Könnte mein Leben wirklich noch mal von vorne beginnen? Würde es sich lohnen, sich das Leben noch mal ganz neu schenken zu lassen?“Wer weiß? Vielleicht sollte man nicht vom Schichtl erwarten, wofür du in einer Kirche besser aufgehoben bist.

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