Mittelschwaebische Nachrichten
Wie das Internet gerechter werden könnte
Ingrid Brodnig warnt in ihrem neuen Buch vor der „Übermacht im Netz“
Die Bücher von Ingrid Brodnig heißen „Hass im Netz“oder „Lügen im Netz“. Ihr aktuelles hat die Grazer Journalistin und Digitalexpertin „Übermacht im Netz“genannt. Brodnig leuchtet seit Jahren die Abgründe des Internets aus – und ist bislang nicht an ihnen verzweifelt. Hat sich das nun geändert? Kapituliert sie gar, wie möglicherweise viele andere auch?
Ingrid Brodnig wurde 1984 geboren; gleich in der Einleitung ihres Buches, das durchgehend aus der Ich-Perspektive verfasst ist, schreibt sie: „Die ersten Jahrzehnte meines Lebens waren von der Zuversicht geprägt, dass die Digitalisierung ein zusätzlicher Motor hin zu einer gerechteren, aufgeklärteren Gesellschaft sein würde. Diesen Optimismus habe ich verloren.“Es sei auch eine düstere Variante des Internets möglich. „Wir stehen derzeit an einem Scheideweg.“
Nicht nur das ist ein bemerkenswerter Auftakt. Brodnig beginnt zudem mit einer „persönlichen Geschichte“. Man kannte sie als Digital-Erkunderin, die nüchtern sezierte, analysierte und erklärte, was sie vorfand. Das tut sie nach wie vor, stellt jetzt jedoch ihre eigene Ernüchterung fest. Was auch daher rührt, dass sie ihren Blick geweitet hat auf globale (Fehl-)Entwicklungen: die unheimliche Macht von Facebook, die realen Folgen des ungleich verteilten „digitalen Wohlstands“. „Es ist eine reale Gefahr, dass Technik auf eine Weise eingesetzt wird, mit der der Druck auf die ärmsten Schichten vergrößert wird“, schreibt sie in einer Passage über einen Besuch im Silicon Valley, dem IT-Standort in den USA schlechthin. Dort gebe es eklatante Gehaltsunterschiede und fragwürdige Arbeitsbedingungen.
Brodnig wäre nicht Brodnig, würde auf so etwas kein prinzipielles „Aber“folgen: „Aber wir haben gleichzeitig auch die Chance, das Netz zurückzuerobern, aktiv daran zu arbeiten, dass von der Digitalisierung möglichst viele profitieren.“Sie befindet sich hier in prominenter Gesellschaft. Der frühere US-Geheimdienstmitarbeiter und Whistleblower Edward Snowden klingt in den Interviews, die er in den letzten Tagen deutschen Medien gab, nicht wesentlich anders. Auch der Internet-Kritiker und Silicon-ValleyUnternehmer Andrew Keen kommt einem in den Sinn. Keen gab zuletzt in einem Buch zwar „fünf Reparaturvorschläge für eine menschlichere digitale Welt“, das allerdings pathetisch und polemisch-zuspitzend.
Brodnig ist da anders, ihre Tipps („Was jeder Einzelne tun kann“) sind sehr konkret und sehr entschieden. Das ist Stärke und Schwäche ihres Buches zugleich. Wobei das Ansichtssache sein mag: Schätzt man sie für ihre journalistischen Analysen oder als Netzaktivistin? Fühlt man sich angesprochen von dem „wir“, das sie verwendet? Teilt man ihre Prämisse, dass „wir Bürger uns schrittweise wehren“sollten?
Vor allem aus den letzten beiden Kapiteln, in denen viele Ausrufezeichen vorkommen, spricht die Bürgerrechtsund Netzaktivistin Brodnig. Sie empfiehlt: „Aufmüpfig sein!“– und Onlinedienste nach den über einen gesammelten Informationen fragen; „Verbündete suchen!“– und Organisationen, „die für uns und unsere Daten kämpfen“, finanziell unterstützen. Rät, auf den Google-Browser Chrome oder den zu Facebook gehörenden Messengerdienst WhatsApp zu verzichten. Fordert Leser auf, über Bücher wie ihres, die „Steuervermeidung großer Konzerne“sowie das „Geschäftsmodell des Überwachungskapitalismus“im Bekannten- und Freundeskreis zu sprechen. „Werden Sie zum Multiplikator.“
Brodnigs Kritik ist überwiegend berechtigt und wird von Experten geteilt. Sie weiß, wovon sie schreibt, und kann die Gefahren(-potenziale) des Internets und der Digitalwirtschaft anhand von Studien belegen und einordnen. Auf dieser Grundlage warnt sie vor ihnen. Den Grundsatz der journalistischen Distanz aber hat sie aufgegeben.
» Ingrid Brodnig: Übermacht im Netz. Warum wir für ein gerechtes Internet kämpfen müssen.
Brandstätter, 208 Seiten, 20 Euro