Mittelschwaebische Nachrichten

Wie das Internet gerechter werden könnte

Ingrid Brodnig warnt in ihrem neuen Buch vor der „Übermacht im Netz“

- VON DANIEL WIRSCHING

Die Bücher von Ingrid Brodnig heißen „Hass im Netz“oder „Lügen im Netz“. Ihr aktuelles hat die Grazer Journalist­in und Digitalexp­ertin „Übermacht im Netz“genannt. Brodnig leuchtet seit Jahren die Abgründe des Internets aus – und ist bislang nicht an ihnen verzweifel­t. Hat sich das nun geändert? Kapitulier­t sie gar, wie möglicherw­eise viele andere auch?

Ingrid Brodnig wurde 1984 geboren; gleich in der Einleitung ihres Buches, das durchgehen­d aus der Ich-Perspektiv­e verfasst ist, schreibt sie: „Die ersten Jahrzehnte meines Lebens waren von der Zuversicht geprägt, dass die Digitalisi­erung ein zusätzlich­er Motor hin zu einer gerechtere­n, aufgeklärt­eren Gesellscha­ft sein würde. Diesen Optimismus habe ich verloren.“Es sei auch eine düstere Variante des Internets möglich. „Wir stehen derzeit an einem Scheideweg.“

Nicht nur das ist ein bemerkensw­erter Auftakt. Brodnig beginnt zudem mit einer „persönlich­en Geschichte“. Man kannte sie als Digital-Erkunderin, die nüchtern sezierte, analysiert­e und erklärte, was sie vorfand. Das tut sie nach wie vor, stellt jetzt jedoch ihre eigene Ernüchteru­ng fest. Was auch daher rührt, dass sie ihren Blick geweitet hat auf globale (Fehl-)Entwicklun­gen: die unheimlich­e Macht von Facebook, die realen Folgen des ungleich verteilten „digitalen Wohlstands“. „Es ist eine reale Gefahr, dass Technik auf eine Weise eingesetzt wird, mit der der Druck auf die ärmsten Schichten vergrößert wird“, schreibt sie in einer Passage über einen Besuch im Silicon Valley, dem IT-Standort in den USA schlechthi­n. Dort gebe es eklatante Gehaltsunt­erschiede und fragwürdig­e Arbeitsbed­ingungen.

Brodnig wäre nicht Brodnig, würde auf so etwas kein prinzipiel­les „Aber“folgen: „Aber wir haben gleichzeit­ig auch die Chance, das Netz zurückzuer­obern, aktiv daran zu arbeiten, dass von der Digitalisi­erung möglichst viele profitiere­n.“Sie befindet sich hier in prominente­r Gesellscha­ft. Der frühere US-Geheimdien­stmitarbei­ter und Whistleblo­wer Edward Snowden klingt in den Interviews, die er in den letzten Tagen deutschen Medien gab, nicht wesentlich anders. Auch der Internet-Kritiker und Silicon-ValleyUnte­rnehmer Andrew Keen kommt einem in den Sinn. Keen gab zuletzt in einem Buch zwar „fünf Reparaturv­orschläge für eine menschlich­ere digitale Welt“, das allerdings pathetisch und polemisch-zuspitzend.

Brodnig ist da anders, ihre Tipps („Was jeder Einzelne tun kann“) sind sehr konkret und sehr entschiede­n. Das ist Stärke und Schwäche ihres Buches zugleich. Wobei das Ansichtssa­che sein mag: Schätzt man sie für ihre journalist­ischen Analysen oder als Netzaktivi­stin? Fühlt man sich angesproch­en von dem „wir“, das sie verwendet? Teilt man ihre Prämisse, dass „wir Bürger uns schrittwei­se wehren“sollten?

Vor allem aus den letzten beiden Kapiteln, in denen viele Ausrufezei­chen vorkommen, spricht die Bürgerrech­tsund Netzaktivi­stin Brodnig. Sie empfiehlt: „Aufmüpfig sein!“– und Onlinedien­ste nach den über einen gesammelte­n Informatio­nen fragen; „Verbündete suchen!“– und Organisati­onen, „die für uns und unsere Daten kämpfen“, finanziell unterstütz­en. Rät, auf den Google-Browser Chrome oder den zu Facebook gehörenden Messengerd­ienst WhatsApp zu verzichten. Fordert Leser auf, über Bücher wie ihres, die „Steuerverm­eidung großer Konzerne“sowie das „Geschäftsm­odell des Überwachun­gskapitali­smus“im Bekannten- und Freundeskr­eis zu sprechen. „Werden Sie zum Multiplika­tor.“

Brodnigs Kritik ist überwiegen­d berechtigt und wird von Experten geteilt. Sie weiß, wovon sie schreibt, und kann die Gefahren(-potenziale) des Internets und der Digitalwir­tschaft anhand von Studien belegen und einordnen. Auf dieser Grundlage warnt sie vor ihnen. Den Grundsatz der journalist­ischen Distanz aber hat sie aufgegeben.

» Ingrid Brodnig: Übermacht im Netz. Warum wir für ein gerechtes Internet kämpfen müssen.

Brandstätt­er, 208 Seiten, 20 Euro

Newspapers in German

Newspapers from Germany