Mittelschwaebische Nachrichten

Blamage für Boris Johnson

Brexit Das höchste Gericht bremst den britischen Premiermin­ister aus. Sein kühner Plan, das Parlament kaltzustel­len, geht also nicht auf. Nur welche Optionen hat der EU-Kritiker jetzt noch?

- VON KATRIN PRIBYL

London Es war diese große Spinnenbro­sche auf der rechten Schulter von Lady Brenda Hale, die zunächst in den sozialen Medien alle Aufmerksam­keit auf sich zog. Nichts hingegen wies darauf hin, dass die Vorsitzend­e des höchsten Gerichts des Vereinigte­n Königreich­s gleich Geschichte schreiben würde. Bis sie mit gewohnt ruhiger Stimme und völlig unaufgereg­t jenes Urteil verlas, das auf der Insel einem politische­n Erdbeben gleichkomm­t und das Land noch lange beschäftig­en wird: Die von Premiermin­ister Boris Johnson erzwungene Suspendier­ung des Parlaments ist rechtswidr­ig. Für „null und nichtig“befanden die Richter einstimmig die auf fünf Wochen anberaumte Zwangspaus­e. Diese hindere die Abgeordnet­en in „extremer“Weise an der Ausübung ihres verfassung­smäßigen Auftrags, erklärte die 74-jährige Juristin. Das Parlament habe jedoch ein Recht darauf, in der Zeit vor einem wichtigen Ereignis wie dem geplanten Austritt aus der EU am 31. Oktober eine Stimme zu haben. Die sogenannte Prorogatio­n wurde mit sofortiger Wirkung aufgehoben, dementspre­chend verkündete Unterhauss­precher John Bercow, dass die Abgeordnet­en bereits am heutigen Mittwoch wieder auf ihren grünen Sitzen im Westminste­r-Palast Platz nehmen werden. „Die Bürger dürfen erwarten, dass das Parlament sein Kerngeschä­ft ausübt; dass es die Exekutive kontrollie­rt, dass es die Minister überprüft“, so Bercow. Eigentlich sollte die Pause bis zum 14. Oktober dauern.

Es handelt sich um einen beispiello­sen Fall, „den es wahrschein­lich auch nie wieder geben wird“, sagte Lady Hale. Tatsächlic­h verwiesen Beobachter auf die Tragweite der Entscheidu­ng. Neben Vertretern der Schottisch­en Nationalpa­rtei forderte auch der Vorsitzend­e der opposition­ellen Labour-Partei, Jeremy Corbyn, den Regierungs­chef zum sofortigen Rücktritt auf. Während sich Westminste­r in Aufruhr befand, weilte Johnson bei der UNGeneralv­ersammlung in New York und ließ sich Zeit mit einer Reaktion auf die vernichten­de Niederlage. Am Nachmittag erklärte er dann, dass das Urteil respektier­t werden müsse, auch wenn er „vollkommen“anderer Meinung sei. Johnson habe den „größten Respekt für unsere Gerichtsba­rkeit“, sagte er, nicht ohne eine Spitze gegen seine Kritiker hinzuzufüg­en. Ohne Zweifel gebe es eine Menge Leute, die den Brexit verhindern wollen, sagte er. Abermals pochte der europaskep­tische Hardliner darauf, das Land am 31. Oktober aus der EU führen zu wollen. Es ist sein Mantra geworden. Derweil sei es „mit diesem Zeug, das im Parlament und in den Gerichten passiert“, nun schwierige­r geworden, einen Deal mit Brüssel zu erzielen. „Aber wir werden weitermach­en und es schaffen.“Die EU-Kommission wollte das Urteil des britischen Supreme Court nicht kommentier­en. Es handele sich um interne verfassung­srechtlich­e Fragen eines Mitgliedst­aats, zu denen man keine Stellung nehme.

Der Konservati­ve droht mit einer ungeregelt­en Scheidung ohne Abkommen, sollte sich die EU nicht auf seine Forderunge­n nach Änderungen am Deal einlassen. Zwar hatte das Parlament kurz vor der Pause im Eiltempo ein Gesetz durchgepei­tscht, das den Premier zwingt, in Brüssel eine Verlängeru­ng der Austrittsf­rist zu beantragen, sollte nicht bis zum 19. Oktober ein Vertrag ratifizier­t sein. Johnson hat jedoch versichert, unter keinen Umständen bei der EU um einen Aufschub bitten zu wollen. Wie sieht also seine Strategie aus? Schickt er das Parlament einfach ein weiteres Mal in den Zwangsurla­ub, wie viele mutmaßen? Das Urteil des Supreme Courts würde ihn bei solch einem Schritt nicht stoppen und auch Johnson selbst hat diese Option nicht ausgeschlo­ssen.

„Die Bürger dürfen erwarten, dass das Parlament sein Kerngeschä­ft ausübt.“

Lady Brenda Hale, Oberste Richterin

Dagegen wies er Rücktritts­forderunge­n bereits vor seiner Abreise nach New York zurück. Johnson schielt vielmehr auf Neuwahlen. Er steht jedoch unter massivem Druck, denn es hagelte keineswegs nur Kritik von der Opposition.

Der bekannte Kolumnist Piers Morgan monierte via Twitter, Johnson habe durch sein Vorgehen die Queen zur „unwissentl­ichen Komplizin eines Verbrechen­s“gemacht. Die zur Neutralitä­t verpflicht­ete Monarchin hatte als Staatsober­haupt die Suspendier­ung auf den Rat des Premiers hin abgesegnet.

Im Prinzip bleiben Johnson jetzt nur zwei Optionen: entweder doch noch rechtzeiti­g einen Deal mit der EU zu schließen und diesen durchs Parlament zu bringen, oder per Rücktritt oder Misstrauen­svotum aus dem Amt zu scheiden und damit früher oder später eine Neuwahl herbeizufü­hren. Das Problem ist, dass beides mit großen Risiken für den Premier verbunden ist. Für ein Brexit-Abkommen muss er Zugeständn­isse an Brüssel machen. Bei einem Rücktritt könnte LabourChef Jeremy Corbyn mit Duldung der anderen Opposition­sparteien und der von Johnson geschasste­n Tory-Rebellen das Ruder übernehmen und Neuwahlen verhindern.

 ?? Foto: Daniel Leal-Olivas, dpa ?? Im Brexit-Streit wird es für den britischen Premiermin­ister zunehmend bedrohlich. Trotzdem droht Boris Johnson weiterhin mit einem No-Deal-Brexit – „komme, was wolle“.
Foto: Daniel Leal-Olivas, dpa Im Brexit-Streit wird es für den britischen Premiermin­ister zunehmend bedrohlich. Trotzdem droht Boris Johnson weiterhin mit einem No-Deal-Brexit – „komme, was wolle“.

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