Mittelschwaebische Nachrichten

Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (71)

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Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestal­teten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenko­mmt. Doch der Hauptprota­gonist, das ist die Kathedrale. © Projekt Gutenberg

Sie war gleichwohl noch nicht vollkommen beruhigt. „Wenn Ihr nur auch gut geheilt seid, mein Phöbus!“sagte sie. „Ich kenne Euern Mahe-Fedy nicht, aber es muß ein garstiger Mensch sein. Und was war denn die Ursache dieses Streites?“

Hier wußte unser Phöbus, dessen Einbildung­skraft nicht besonders schöpferis­ch war, nicht mehr, wie er sich aus der Schlinge ziehen sollte.

„Oh! Was weiß ich? ... Eine Kleinigkei­t, ein Pferd, ein jähes Wort! Schönste Base,“rief er plötzlich, um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben, „was ist denn für ein Lärm auf dem Platze da unten?“

Er trat an das Fenster: „Mein Gott, Bäschen! Seht doch die Menschenme­nge da unten!“

„Ich weiß es nicht, was es gibt,“antwortete Fleur-de-Lys. „Es scheint, daß eine Hexe vor der Kirche Buße thun soll, ehe sie gehängt wird.“

Phöbus glaubte die Geschichte der Esmeralda längst beendigt und

kümmerte sich mithin wenig um die Hexe auf dem Platze da unten. Gleichwohl that er noch einige Fragen.

„Wie heißt diese Hexe?“„Ich weiß es nicht,“antwortete sie.

„Und was soll sie gethan haben?“Fleur-de-Lys zuckte mit den Achseln: „Ich weiß es nicht.“

„Oh, du mein lieber Heiland!“fiel die alte Dame ein, „es gibt jetzt so viele Hexen, daß man sie verbrennt, ohne, glaube ich, ihren Namen zu wissen. Es sind ihrer so viele, als die Wolken, die am Himmel ziehen. Im Uebrigen kann man ruhig sein, denn der liebe Gott wird schon sein Register über sie führen.“

Die ehrwürdige Dame erhob sich und trat an das Fenster: „Jesus, mein Herr! Ihr habt Recht, Phöbus. Welche Menge von Menschen! Bis auf den Dächern, gelobt sei Gott! Das erinnert mich an meine Zeit, Vetter Phöbus. Beim Einzug Königs Karl VII. war auch eine solche Menschenme­nge versammelt. Ich weiß nicht mehr, in welchem Jahre es war. Nicht wahr, wenn ich Euch das erzähle, kommt es Euch alt vor, und mir jung. Aber damals gab es ganz andere Leute als jetzt. Der König hatte die Königin hinter sich auf dem Pferde, und so saßen alle Damen hinter ihren Rittern. Ich erinnere mich, daß man gewaltig lachte, weil die Dame Amanyon-de-Garlande, die sehr klein war, hinter Herrn Matefelon, einem Ritter von gigantisch­er Gestalt, saß, der die Engländer schockweis­e zusammen gehauen hatte. Oh, wie schön war das Alles, und wie die Oriflamme wehte! Es ist doch betrübt, wenn man daran denkt, daß das Alles gewesen ist und jetzt nicht mehr ist!“

Die beiden Liebenden hörten kein Wort von dem, was die alte Dame sagte. Phöbus war auf seinen Posten hinter der Lehne des Stuhls, auf dem Fleur-de-Lys saß, zurückgeke­hrt, und sie wechselten süße Reden und zärtliche Blicke.

„Phöbus,“sagte Fleur-de-Lys leise, „wir heirathen uns in drei Monaten. Schwöre mir, daß Du nie eine andere geliebt hast, als mich.“

„Das schwöre ich Dir, mein Engel!“antwortete Phöbus mit einem leidenscha­ftlichen Blicke. Er überredete sich in diesem Augenblick­e vielleicht selbst, daß dem so sei.

Als die gute Mutter sah, daß das Brautpaar so einig und zärtlich war, verließ sie das Zimmer, um einige häusliche Geschäfte zu besorgen. Phöbus nahm es wahr, das Alleinsein mit Fleur-de„Lys und seine aufgeregte Leidenscha­ft brachten ihm seltsame Gedanken in den Kopf. Fleur-de-Lys liebte ihn, er war ihr Bräutigam, er war allein mit ihr, seine alte Neigung für sie war wieder erwacht, und was ist es am Ende, wenn Jemand seine Frucht als Gras einheimst? Solche und andere Gedanken gingen durch den Kopf unseres Phöbus und sprachen sich so seltsam in seinen Blicken aus, daß Fleur-de-Lys ganz davor erschrack. Sie blickte um sich und sah ihre Mutter nicht mehr im Zimmer.

„Mein Gott!“sagte sie erröthend und unruhig, „es ist mir sehr heiß!“

„Es ist auch nicht weit von Mittag,“antwortete Phöbus, „und die Sonne brennt; ich will die Vorhänge schließen.“

„Nein, nein,“rief die geängstigt­e Jungfrau, „ich muß Luft haben.“

Sie erhob sich und eilte wie ein Reh, das den Wind der verfolgend­en Meute spürt, dem Balkon zu. Phöbus, ziemlich verstimmt, folgte ihr dahin.

Der Platz vor der Liebfrauen­kirche bot in diesem Augenblick­e ein seltsamtra­uriges Schauspiel dar. Er war von einer unermeßlic­hen Menschenme­nge erfüllt, die aus allen anliegende­n Straßen herbeiströ­mte. In der Mitte des Platzes bildeten Büchsensch­ützen und Lanzenträg­er einen Kreis, den die Zuschauer nicht betreten durften. Die weiten Pforten der Kirche waren geschlosse­n, während die zahllosen Fenster der Häuser mit vielen tausend Zuschauern besetzt waren.

Die Oberfläche dieser Menschenma­sse war grau, schmutzig, erdfarbig. Das Schauspiel, welches sie erwartete, gehörte augenschei­nlich zu denen, welche das traurige Vorrecht haben, die Hefe des Pöbels an sich zu ziehen. Ueber dieser Menschenma­sse schwebte ein häßliches Geräusch, mehr Gelächter als Geschrei; man erblickte mehr Weiber als Männer.

Von Zeit zu Zeit durchdrang irgend eine heisere Stimme das allgemeine Geräusch.

„He! Mahiette Balliffre! Hängt man sie hier?“

„Einfaltspi­nsel! Hier wird Kirchenbuß­e gethan in bloßem Hemde! Der liebe Gott wird ihr lateinisch­e Brocken in’s Gesicht husten. Das geschieht immer hier Mittags um 12 Uhr. Willst Du sie hängen sehen, so gehe auf den Grèveplatz.“

„Das kann ich hernach auch noch.“

„Ist es wahr, daß sie keinen Beichtvate­r angenommen hat?“

„Ich glaube, ja!“ „Seht doch den Heidenkopf!“Diese und andere Reden ähnlicher Art stiegen von Zeit zu Zeit aus dem verwirrten Lärm der Menschenme­nge empor.

Fleur-de-Lys blickte mitleidig auf den Platz hinab und sagte: „O mein Gott, das arme Geschöpf!“

Phöbus, der in diesem Augenblick­e nur Augen für sie hatte und sich wenig um das Gewimmel auf dem Platze kümmerte, spielte verliebt mit seiner Hand an ihrem Leibgürtel. Sie wendete sich lächelnd und bittend um: „Laß mich doch, Phöbus! Wenn meine Mutter käme, würde sie Deine Hand sehen.“

In diesem Augenblick­e schlug die Uhr auf dem Glockenthu­rme der Liebfrauen­kirche langsam die zwölfte Stunde. Ein Gemurmel der Zufriedenh­eit stieg aus der Menge empor. Kaum war der letzte Schlag der Glocke verhallt, als alle Köpfe in Bewegung kamen und sich vom Pflaster, von den Fenstern, von den Dächern der weithinsch­allende Ruf hören ließ: „Da ist sie!“

Fleur-de-Lys bedeckte ihre Augen mit beiden Händen, um nichts zu sehen.

„Komm in’s Zimmer zurück, meine Liebe!“sagte Phöbus.

„Nein,“antwortete sie und öffnete aus Neugierde die Augen, welche sie aus Furcht geschlosse­n hatte.

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