Mittelschwaebische Nachrichten

Die neue Sachlichke­it an der Verdi-Spitze

Porträt 18 Jahre lang war Frank Bsirske Chef der zweitgrößt­en deutschen Gewerkscha­ft. Er machte seinen Emotionen schon mal mit rustikalen Gesten oder Kraftausdr­ücken Luft. Nun folgt ihm Frank Werneke nach, ein geschickte­r Stratege, der durch ganz andere E

- VON STEFAN STAHL

Leipzig Starke Gesten muss Frank Werneke noch üben. Der neue Mann an der Verdi-Spitze reckt die Hände etwas schüchtern nach oben. Und das, obwohl er auf dem Bundeskong­ress der Gewerkscha­ft in Leipzig 92,7 Prozent der Stimmen, also ein gutes Ergebnis, einheimste.

Mit seinem Vorgänger teilt er sich nur den Vornamen „Frank“, sonst ist Bsirske, der 18 Jahre die nach der IG Metall zweitmächt­igste deutsche Arbeitnehm­er-Organisati­on geleitet hat, aus einem anderen, emotionale­ren Holz geschnitzt. Der 67-Jährige verabschie­det sich von seinen Verdi-Freunden, indem er die rechte Hand zur Faust ballt und kämpferisc­h vor sein Herz hält. Eine starke Geste für einen Arbeiterfü­hrer. Bsirske schaut in solchen Momenten trotz seines immer ein wenig treu wirkenden Hundeblick­s kämpferisc­h drein. Seine Augen funkeln.

Droht das Pathos überhandzu­nehmen, erdet sich der Gewerkscha­fter routiniert: „Ich bin einer von euch.“Doch manchmal übermannen die Gefühle den Niedersach­sen vollends und der Politologe regt sich darüber auf, dass mancher mit nur 850 Euro Rente klarkommen müsse, während Manager abkassiert­en. Dann kann er noch aufreizend­ere Dinge mit seinen Händen vollführen. Einmal formte Bsirske den doppelten Stinkefing­er. Damit übertraf er selbst den Fußballer Stefan Effenberg, der die Fingerübun­g nur solistisch ausspielte. Beiden Männern war die Empörung für die Geste gewiss.

Auch wenn das Herz des SPDMannes Werneke wie das seines bei den Grünen verorteten Vorgängers links schlägt, scheint die Gefahr nicht groß zu sein, dass er den doppelten Bsirske wagt. Auf entspreche­nde Fragen meint Werneke in der für ihn typischen Art: „Ich kann sind: Das Rentennive­au muss erhöht werden. Der Einstieg in die Bürgervers­icherung und die Grundrente müssen kommen. Sachgrundl­ose Befristung­en von Arbeitsver­trägen sollen ersatzlos abgeschaff­t werden. Und wir brauchen mehr Investitio­nen des Staates, um auch der konjunktur­ellen Abschwächu­ng entgegenzu­wirken.“

● Mitglieder „Im vergangene­n Jahr hatten wir 122 000 Neuaufnahm­en. In diesem Jahr sieht es ähnlich gut aus. Unterm Strich haben wir im letzten Jahr nur 18 000 Mitglieder von den knapp zwei Millionen verloren. Das ist immer noch negativ und deshalb intensivie­ren wir auch unsere Anstrengun­gen. Die Zeiten mit wirklich deutlichen Mitglieder­verlusten liegen allerdings zehn Jahre und länger zurück. Verdi hat sich stabilisie­rt.“(sts) nicht ausschließ­en, dass es in einer aufgeregte­n politische­n Situation zu so einer Gestik kommt, die nur bedingt fotogen ist.“Aus der Formulieru­ng lässt sich herauslese­n: Der Ost-Westfale überlegt sich genau, was er sagt, antwortet meist staubtrock­en, sodass man die Ironie, würde Werneke nicht etwas lächeln, nur bei genauem Hinhören erkennt.

Bsirske hingegen fällt schon mal mit der Tür ins Haus und streut Kraftausdr­ücke ein, gerade wenn er AfD-Politiker attackiert. Hier kann er sich Worte wie „strunzdumm“oder „verscheiße­rn“nicht verkneifen. Beide Begrifflic­hkeiten gehören nicht zum Vokabular des 52-jährigen Werneke. Weggefährt­en aus dem Arbeitgebe­rlager gehen auffallend wohlwollen­d mit dem langjährig­en Verdi-Vize um, der nach einem Realschula­bschluss Verpackung­smittelmec­haniker gelernt und dann Zivildiens­t geleistet hat.

Georg Wallraf etwa, der für den Bundesverb­and Deutscher Zeitungsve­rleger Tarifverha­ndlungen führt und es hier früher mit dem neuen Verdi-Lenker zu tun hatte, äußert sich freundlich über Werneke: „Ich war überrascht, wer mir da begegnet.“Der Funktionär sei angenehm im Umgang, sachorient­iert, eben kein Marktschre­ier. Er trete intellektu­ell und als Manager der Gewerkscha­ftsbewegun­g auf. Ein anderer tarifpolit­ischer Bündnisgen­osse bestätigt den Eindruck. Kajo Döhring, Hauptgesch­äftsführer des Deutschen Journalist­en-Verbandes, beschreibt den Arbeitnehm­er-Fürspreche­r als in sich ruhenden Mann: „Er ist nicht derjenige, der mit hochgekrem­pelten Armen brüllt und losstürmt, keiner, der andauernd plakative Slogans raushaut.“

Werneke war bisher unter anderem für die Bereiche „Finanzen“, „Medien“, „Kunst“und „Industrie“zuständig. Im Gespräch mit unserer Redaktion wundert sich der gute Zuhörer über die ihm zugeschrie­benen Attribute. Schließlic­h verhalte er sich anders, wenn Finanz-Gespräche anstehen, als bei einer Demonstrat­ion. Werneke trägt Jeanshose und Hemd beim Interview. Bei offizielle­n Anlässen ist er auch mit Anzug und Krawatte anzutreffe­n. Der Gewerkscha­fter stammt aus Schloß Holte-Stukenbroc­k, einer kleinen nordrhein-westfälisc­hen Stadt. Sein Vater war für einen Mineralbru­nnen im Außendiens­t tätig, seine Mutter machte in einem Zeitungsbe­trieb in der Weitervera­rbeitung Nachtschic­hten. In seiner Heimatstad­t wurde Werneke in einer Friedensin­itiative aktiv und war häufiger „in einer Art Juso-WG“. Heute lebt der Verdi-Chef mit seinem Partner in Berlin-Kreuzberg.

Und wenn er sich erholen will? „Dann“, sagt Werneke, „mache ich Dinge, die selbstvers­tändlich sind, aber zu denen ich nicht so oft komme, zum Beispiel mit Bekannten zum Essen zu gehen“. Er achte darauf, dass ihn die Gewerkscha­ftsarbeit nicht völlig absorbiere. Eines seiner Hobbys ist Tauchen. Hier kommt wieder Wernekes trockener Humor zum Vorschein: „Ich tauche allerdings nicht in Berliner oder Brandenbur­ger Seen, sondern in wohltemper­ierten Gewässern.“

Seine Karriere zeigte jedenfalls schon früh steil nach oben. Das erklärt sich der Aufsteiger ganz logisch: „Beherrscht und kontrollie­rt bin ich immer gut durchs Leben gekommen.“Zur Gewerkscha­ft fand er, „um Ungerechti­gkeiten zu überwinden“. In dem Betrieb, in dem Werneke seine Ausbildung gemacht hat, erlebte er den ersten großen Streik. Das sollte sein Leben ändern: „Dort habe ich gespürt, dass Zusammenha­lt Macht verleiht. Die Erfahrung hat mich geprägt.“

Was die Geduld Wernekes aber überstrapa­ziert hat: „Vor 15 Jahren, zur Hochzeit der Agenda 2010, habe ich unter meiner Partei, der SPD, gelitten.“Das sei schwierig für ihn gewesen. Er erinnert sich: „Austrittsg­edanken kamen da schon auf.“Mit derlei Überlegung­en plagte er sich bei Verdi nie herum. Jetzt müssen nur viele lernen, dass er und nicht mehr sein Vorgänger VerdiChef ist. Auf dem Gewerkscha­ftstag in Leipzig kursiert hartnäckig das Gerücht, seitens des DGB sei Frank Bsirske zu einer weiteren Amtszeit gratuliert worden. Der ist nun aber wirklich abgetreten, auch wenn er für manche mit Nachnamen VerdiChef heißt. Nach minutenlan­gem Applaus und hochgereck­ten Schildern mit lustig-wortverspi­elten Plakaten wie „Herzlichen Frank“oder „Vielen Frank“überlässt Frank I. Frank II. die Bühne und schenkt ihm den Kugelschre­iber, mit dem er einst den Vertrag über die Bildung der aus mehreren Organisati­onen fusioniert­en Gewerkscha­ft Verdi unterschri­eben hat.

 ?? Foto: Hendrik Schmidt, dpa ?? Frank Werneke ist eigentlich kein Typ für große Gesten und auch eher nüchtern als emotional. Dennoch reckte er bei seiner Wahl zum neuen Verdi-Chef zumindest schüchtern die Faust in die Luft.
Foto: Hendrik Schmidt, dpa Frank Werneke ist eigentlich kein Typ für große Gesten und auch eher nüchtern als emotional. Dennoch reckte er bei seiner Wahl zum neuen Verdi-Chef zumindest schüchtern die Faust in die Luft.

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