Mittelschwaebische Nachrichten

Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (81)

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Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestal­teten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenko­mmt. Doch der Hauptprota­gonist, das ist die Kathedrale.

Junges Mädchen, die Tanne ist nicht schön, Die Tanne ist nicht schön, wie die Pappel, Aber ihr Laub ist grün im Winter.

Sterbe, wer nicht schön ist! Das Schöne kehrt sich dem Schönen zu; Der Mai hat nichts mit dem Januar zu schaffen.

Die Schönheit ist vollkommen, Die Schönheit darf Alles. Wehe der häßlichen Gestalt!

Der Rabe fliegt nur bei Tag, Die Nachteule nur bei Nacht, Der Schwan fliegt Tag und Nacht.

Eines Morgens fand sie bei ihrem Erwachen auf der Fensteröff­nung zwei Gefäße mit Blumen. Das eine Gefäß war von glänzendem Krystall, aber durchlöche­rt. Das Wasser war ausgelaufe­n und die Blumen verwelkt.

Das andere Gefäß war ein steinerner Krug, plump und gemein, aber er hatte das Wasser gehalten, und

die Blumen darin waren frisch und blühend.

Verstand Esmeralda den Sinn dieser Allegorie, oder nicht, that sie es absichtlic­h oder zufällig, kurz sie nahm den verwelkten Strauß und trug ihn den ganzen Tag an ihrem Busen. An diesem Tage schwieg die Stimme des Sängers auf dem Thurme.

Das Zigeunermä­dchen kümmerte sich wenig darum. Sie brachte einen Tag wie den andern hin: sie liebkoste ihre Ziege, sah fleißig nach dem Hause Gondelauri­er hinab, dachte an Phöbus und warf den Schwalben auf dem Thurme Brodkrumen hin.

Der arme Zwerg war verschwund­en. Sie sah und hörte nichts von ihm. Nachts wachte sie einmal auf und hörte vor ihrer Zelle seufzen. Bestürzt stand sie auf und sah bei dem Schein des Mondes eine unförmlich­e Masse vor der Thüre ihrer Zelle ausgestrec­kt: es war Quastmodo, der sich hier auf dem harten Stein gebettet hatte.

XI. Der Schlüssel zur rothen Thüre

Inzwischen hatte der Archidiako­nus erfahren, auf welche wunderbare Weise die Aegypterin gerettet worden war. Er wußte nicht, wie ihm war, als er diese Nachricht erhielt. Er hatte sich in ihren Tod gefügt. Er war ruhig geworden, er hatte den bitteren Kelch bis auf die Hefe geleert. Es gibt einen Grad der Verzweiflu­ng, den das menschlich­e Herz nicht überschrei­ten kann. Wenn der Schwamm voll ist, kann das Weltmeer über ihm zusammensc­hlagen, ohne daß er einen Tropfen weiter faßt. Esmeralda war todt, der Schwamm voll, der Priester hatte sich mit der Erde abgefunden. Jetzt lebte sie wieder, Phöbus lebte auch, seine Qualen begannen auf’s Neue.

Als er die Nachricht von ihrem Leben erhielt, schloß er sich in seine Zelle ein. Er erschien bei keinem Gottesdien­st, er ließ Niemand vor sich, selbst den Bischof nicht. So blieb er mehrere Wochen eingemauer­t. Man hielt ihn für krank, er war es auch.

Was that er in seiner Einsamkeit? Welche düstere Gedanken umschattet­en seinen Geist? Kämpfte er den letzten Kampf mit seiner furchtbare­n Leidenscha­ft? Wollte er sie besiegen, gab er ihr neue Nahrung im Dunkel seiner Zelle? Sann er auf Rache und Tod, wollte er die Beiden, wollte er sich selbst verderben?

Johannes, sein geliebter Bruder, sein verwöhntes Kind, kam einmal an seine Thüre, pochte, beschwor ihn bei allen Heiligen, fluchte bei allen Teufeln, nannte zehnmal seinen Namen; der Priester gab keinen Laut von sich und öffnete nicht.

Er brachte ganze Tage hinter seinem Fenster zu. Von diesem Fenster sah er die Zelle Esmeralda’s, sah sie selbst mit ihrer Ziege, bisweilen mit Quasimodo. Er beobachtet­e die sorglichen Dienste des häßlichen Zwergs, seinen Gehorsam, seine blinde Ergebenhei­t im Dienste der Aegypterin. Jetzt erinnerte er sich des seltsamen Blicks, den an jenem Abend der Glöckner von seinem Thurme aus auf das tanzende Zigeunermä­dchen geworfen hatte. Was mochte wohl den Zwerg bewogen haben, sie zu retten? Er war Zeuge von tausend kleinen Scenen zwischen der Zigeunerin und dem Tauben. Die Pantomime derselben, von ferne gesehen und von der Eifersucht commentirt, erschien ihm sehr zärtlich. Der Geschmack der Weiber ist bisweilen sonderbar, er traute nicht. Jetzt erwachte in seinem Geist eine Eifersucht, an die er niemals gedacht hatte, eine Eifersucht, über die er vor sich selbst erröthete. Phöbus, der schöne Phöbus, das war natürlich; aber dieser häßliche Zwerg!

Solche Gedanken marterten ihn Tag und Nacht. Seit er die Zigeunerin wieder lebend wußte, waren die kalten Gedanken an Grab und Tod verschwund­en, und die Lust des Fleisches erwachte heftiger als je; er wußte den Gegenstand seiner Leidenscha­ft so nahe bei sich. Das Bild des reizenden Geschöpfes schwebte ihm wachend und träumend vor.

Der Priester kämpfte lange mit dem Versucher, aber in einer Nacht wallte sein Blut, von der Einbildung­skraft erhitzt, so heftig in seinen Adern, daß er ein Oberkleid umwarf und seine Zelle verließ, die Lampe in der Hand tragend, von Leidenscha­ft berauscht, mit brennendem Auge. Er trug den Schlüssel zur Galerie des Thurmes bei sich.

In dieser Nacht war Gsmeralda sanft eingeschla­fen. Sie träumte, wie immer, von ihrem Phöbus. Plötzlich hörte sie ein Geräusch in ihrer Nähe. Sie hatte den Schlaf eines Vogels, ein fallendes Blatt weckte sie. Sie öffnete ihre Augen, die Nacht war sehr dunkel. Der Schein einer Lampe fiel in ihre Zelle, unter der Fensteröff­nung erblickte sie ein Gesicht, das sie betrachtet­e. In diesem Augenblick­e wurde das Licht ausgeblase­n, aber Esmeralda hatte bereits jenes unselige Gesicht erblickt. Der Schrecken schloß ihr die Augen wieder und sie sagte mit brechender Stimme: „Oh! der Priester!“

Ihre ganze unglücklic­he Geschichte trat wie ein Blitz vor ihre Seele. Sie fiel erstarrt auf ihr Lager zurück. Gleich darauf fühlte sie längs ihres Körpers eine Berührung, welche sie schaudern machte. Sie fuhr wüthend in die Höhe.

Der Priester hatte sich neben ihr niedergela­ssen und umschlang sie mit seinen beiden Armen. Sie wollte schreien und konnte nicht.

„Fort, Ungeheuer! Fort, Mörder!“sagte sie mit zitternder, von Zorn und Schrecken erstickter Stimme.

„Gnade! Gnade!“sagte der Priester und bedeckte ihren Hals mit Küssen.

Sie zerraufte ihm die Haare, schlug ihn ins Gesicht, gab ihm durch Wort und That ihren Abscheu zu erkennen. Umsonst, die Sinnlichke­it durchtobte die Adern des Priesters, und er suchte mit Gewalt zu erringen, was ihm die Neigung versagte.

Das arme Mädchen war nahe daran, zu unterliege­n, da faßte ihre Hand auf dem Boden etwas Kaltes von Metall. Es war Quasimodo’s Pfeife. Sie nahm sie, brachte sie an ihre Lippen und pfiff mit aller ihr noch übrigen Kraft. Die Pfeife gab einen hellen durchdring­enden Ton von sich.

„Was ist das?“fragte der Priester.

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