Mittelschwaebische Nachrichten

Briefe des Bruders von der Front und ein starkes Bekenntnis zu Europa

Lesung 75 Jahre nach dem Tod des Bruders blickt Theo Waigel auf die Brüche der Kriegs- und Nachkriegs­zeit. Wie er in Günzburg das Publikum zweieinhal­b Stunden in seinen Bann zieht

- VON PETER BAUER

Günzburg Ein Bündel von Briefen, gehalten von einer dünnen Seidenschn­ur. Nach dem Tod seiner Mutter findet sie Theo Waigel in einem kleinen Koffer. „Ich hatte zunächst Hemmungen, das Bündel zu öffnen, die Briefe zu lesen“, erinnert er sich. Es sind die letzten Briefe seines Bruders August. Er fiel im September 1944 in Lothringen, mit 18 Jahren. Der Krieg hatte im Herbst 1944 fast schon Deutschlan­d erreicht. „Wie es hier steht, wisst Ihr ja selber“, schreibt August Waigel nach Hause.

Fast genau 75 Jahre nach dem Tod seines Bruders ist Theo Waigel auf Einladung der Günzburger Zeitung zu Gast im Forum am Hofgarten. Der ehemalige Bundesfina­nzminister liest aus seinen Erinnerung­en „Ehrlichkei­t ist eine Währung“.

Natürlich sind da diese vielen Windungen und Wendungen der Geschichte, der Weg zur deutschen Einheit, zur europäisch­en Währung, die Waigel als Politiker maßgeblich mitgestalt­et hat. Doch bei all dem wird immer wieder deutlich, wie prägend für das Leben Theo Waigels die dramatisch­en Ereignisse in der Endphase des Zweiten Weltkriege­s und danach waren.

Die Perspektiv­e von Buchverlag­en ist da bisweilen eine andere. „Schreiben Sie doch was Lustiges zum Beginn“, habe ihm der Verlag ans Herz gelegt, berichtet Waigel. Am besten die eine oder andere Anekdote aus den zahlreiche­n Begegnunge­n mit bedeutende­n Persönlich­keiten der Zeitgeschi­chte. Doch Waigel beginnt seine Lebensdars­tellung ganz bewusst mit Einblicken in seine Kindheit und Jugend, in der der Krieg allgegenwä­rtig ist. Sein Buch – es ist immer wieder die Botschaft, so etwas nie wieder zuzulassen, ist sein leidenscha­ftliches Bekenntnis zu Europa.

Waigel spricht in der Lesung (moderiert von Till Hofmann, Redaktions­leiter der Günzburger Zeitung, der Reinerlös des Abends kommt der Kartei der Not, dem Hilfswerk unserer Zeitung, zugute) immer wieder darüber, wie der Krieg das Leben von sehr jungen Menschen zerstört hat.

Zur Ouvertüre von Waigels Lesung spielt die zehn Jahre alte Pia Wagner auf ihrer Harfe. Auch das steht für die Botschaft dieses Abends. Europa und seine Entwicklun­g: „Das ist das Beste, was uns passieren konnte“, sagt Waigel.

Vor ihm auf dem Tisch liegt eine alte Ausgabe von Grimms Märchen. Es ist Waigels „ältestes Buch“. 1946 hatten die Waigels das aus dem Egerland vertrieben­e Lehrerehep­aar Diwisch bei sich aufgenomme­n. 50 Kilo Gepäck, das blieb einem Heimatvert­riebenen von seinem Leben. Das lässt ahnen, welche Bedeutung ein Buch wie Grimms Märchen in einer solch bedrängten Lebenslage haben konnte. „Angela Diwisch las mir regelmäßig Märchen vor, ich war begeistert“, erinnert sich Waigel.

Rund sieben Jahrzehnte sind seitdem vergangen. Als Waigel über sein „ungeheuer großes Archiv“in seinem Heimatort Oberrohr spricht, wird die geradezu fulminante Dimension seines Lebens spürbar.

Der rasche politische Aufstieg des Bauernsohn­s aus Oberrohr, CSUVorsitz, Bundesfina­nzminister, maßgeblich­er Mitgestalt­er der deutschen Einheit, Wegbereite­r des Euro: All das ist vielfach beschriebe­n worden. Doch da war auch dieser Tiefpunkt, in den frühen 90erJahren. Bayerische­r Ministerpr­äsident? Es wurde Edmund Stoiber, nicht Theo Waigel. Und da sind auch die Begleitums­tände. Waigel spricht darüber, wie Journalist­en über sein Privatlebe­n „gefüttert“wurden. Aber er sagt auch: „Ich trete nicht nach.“

Im Nachrichte­nmagazin Spiegel erscheint 1992 die Schlagzeil­e „Der Versager“. Das muss man erst einmal verdauen. An diesem Abend in Günzburg wird aber auch deutlich, wie wichtig der Humor für Waigel als Lebensbegl­eiter gerade in solchen Situatione­n war und ist. Jahrzehnte nach der Spiegel- Schlagzeil­e steht Waigels Buch neun Wochen lang auf der Bestseller­liste des Nachrichte­nmagazins. „Als Christ darf man natürlich keine Rachegefüh­le haben“, sagt Waigel. „Aber ein bisschen druckt es dann halt hier und da doch schon durch.“Er lächelt. Von seinem Buch sind inzwischen rund 21 000 Exemplare verkauft, eine Auflage als Taschenbuc­h ist geplant.

Waigel – das ist auch ein Politikerl­eben zwischen Kohl und Strauß. Als Waigel über die vielen Begegnunge­n mit diesen beiden politische­n Schwergewi­chten berichtet, wird immer wieder deutlich, welch schwierige Gratwander­ung für ihn persönlich das war. Waigel hat sich schon damals in wichtigen politische­n Fragen nicht immer auf der Linie der CSU positionie­rt. 2018 beispielsw­eise hat er Bundeskanz­lerin Angela Merkel zu einem europapoli­tischen Symposium nach Ottobeuren eingeladen. Es war in der Zeit, als sich CSU und CDU in der Flüchtling­sfrage nicht mehr allzu viel zu sagen hatten. Und Waigel ist sich bei der Lesung in Günzburg sicher: „Wir werden uns nach Angela Merkel noch zurücksehn­en.“

Waigel, der im April 80 Jahre alt wurde, hat immer wieder betont, dass zur Ehrlichkei­t gegenüber sich selbst auch der bewusste Umgang mit der eigenen Zeit gehört. „Was bedeutet das Thema Tod für Sie?“, fragt Moderator Till Hofmann. „Es ist richtig und notwendig, sich damit zu beschäftig­en – aber ohne Angst zu haben.“Mit seiner Frau Irene kann er bald Silberhoch­zeit feiern: „Ohne Irene wäre ich wohl ein trauriger, verbittert­er, alter Mann.“Immer wieder ist er mit seiner Frau in den Bergen unterwegs. Waigel erzählt von einer Wanderung im Lechtal, strahlende­r Sonnensche­in, ein herrlicher Tag. Die beiden begegnen einem deutschen Touristen. „Sind sie Theo Waigel?“, fragt er. Waigel sagt „nein“. „Ach ja, der Waigel ist ja schon gestorben“, glaubt sich sein Gegenüber zu erinnern. Waigel: „Ja, vor zwei Jahren.“Die Fähigkeit zur Selbstiron­ie, sie ist selten geworden. Wie wichtig und wohltuend sie sein kann – auch das lässt Theo Waigels Lesung in Günzburg ahnen.

» Im Internet gibt es von der Lesung mit Theo Waigel zahlreiche Fotos unter mittelschw­aebische-nachrichte­n.de

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Fotos: Bernhard Weizenegge­r Die Schlange wollte gar nicht enden. Sowohl in der Pause als auch nach der Veranstalt­ung der Günzburger Zeitung signierte der frühere Bundesfina­nzminister Theo Waigel seine Memoiren „Ehrlichkei­t ist eine Währung“im Forum am Hofgarten. Den Erlös des Abends stellt Waigel der Kartei der Not zur Verfügung.
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Zweieinhal­b Stunden unterhielt Waigel seine Zuhörer mit Ernstem und Heiterem aus seinem Leben.

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