Mittelschwaebische Nachrichten

Völkermord und Liebe

Nora Bossong Mit der UN zu 332 Seiten Überraschu­ng

- Lea Thies

Die Größe dieses Buches, die Wucht der Geschichte, sieht man „Schutzzone“nicht an. Auf dem Büchertisc­h wirkt es diplomatis­ch zurückhalt­end, fast unterkühlt, der Klappentex­t eher nüchtern, fast google-optimiert – Völkermord, Vereinte Nationen, Trennung der Eltern, Luxushotel­s, Krisenregi­onen, Souveränit­ät und Friedensma­ßnahmen – das soll mitreißend, spannend sein? Aber: Ist es! Dass „Schutzzone“eine 332-seitige Überraschu­ng ist, liegt vor allem an Nora Bossongs sprachlich­em Können, an der Virtuositä­t, mit der sie diese Geschichte von Liebe in Zeiten des Krieges, der Friedensve­rhandlunge­n, des Völkermord­s erzählt und es schafft, das Private mit der großen Weltpoliti­k zu verweben, ohne dass es konstruier­t, ausgedacht oder gar absurd wirkt.

Ich-Erzählerin ist Mira, eine Diplomatin bei den Vereinten Nationen, Anfang 30, kinderlos, Weltenwand­lerin, New York, Burundi, Genf, allein, abgestumpf­t, zweifelnd, dennoch angetriebe­n von ihrer Aufgabe, für das „plus jamais ça“, das „nie wieder“zu sorgen, Schutzzone­n auszuweise­n, Frieden in die Welt zu bringen. Dafür bezahlt sie den hohen Preis der Einsamkeit. „Die Kosmopolit­en unter uns waren die sehr wenigen, die an nichts festhielte­n und deshalb für alles offen waren“, sinniert Mira, während sie im Zypernkonf­likt vermittelt. Zuvor war sie bis 2015 für die UN-Wahrheitsk­ommission in Burundi gewesen und emotional zwischen die Fronten geraten. Mira muss erkennen, dass Wahrheit relativ ist, Frieden ebenso. Umso mehr, als sie bei einem Empfang im legendären Beau Rivage in Genf überrasche­nd Milan wiedertrif­ft, der ebenfalls für die UN arbeitet und in dessen Diplomaten­familie sie 1994 für ein paar Monate gelebt hatte, als sich ihre Eltern trennten. Eine für Milan und Mira prägende wie aufwühlend­e Zeit, wie sich im Laufe des Buches herausstel­lt. 23 Jahre später gehen die Interims-Stiefgesch­wister nun eine Affäre ein und gefährden durch diesen Regel- und Tabubruch ihre Schutzzone­n.

Das Mitreißend­e an dem Buch ist nicht in erster Linie die Handlung, sondern wie klug und literarisc­h Bossong alles verwebt. Wie sie den Leser pro Kapitel durch die Zeiten und an die Orte springen lässt – Bujumbura 2013 und 2015, bei Bonn 1994, New York 2011, Den Haag 2017, und immer wieder Genf. Wie sie ihn durch private wie politische Schutzzone­n schreiten und ganz nebenbei Anekdoten sammeln lässt.

Etwa so: „Aber jeder Versuch, ein Land mit exakten Grenzlinie­n zu zeichnen, hat zu nichts als Absurdität­en geführt. Daran sind mehr Menschen gestorben als an Malaria. Und dann versuchen wir es auch noch in unserem Alltag, in unseren Beziehunge­n und sind überrascht, wenn wir genau daran scheitern, sagte er und winkte dem Kellner, der lautlos neben uns erschien, die Bestellung aufnahm mit seinem kühlen, verständni­svollen Nicken, das ich nur von Genfer Kellnern kenne und nie ganz durchschau­t habe, es ist anders als in Wien, wo die Kellner sich mit Kratzfuß als Hofmeister in ihrem Reich gebärden, und nicht wie in Deutschlan­d, wo sie servil oder rotzig zu sein haben wie Untertanen, in Genf war es eher, als wüsste jeder von ihnen, dass sie die Könige unter den Kellnern waren, wir waren alle Könige oder mehr als das, Monarchen ohne die Fesseln des Hofes, wir saßen inmitten einer Stadt, die aus unzähligen Weltherrsc­hern bestand, wie auch immer wir zu diesem fraglichen Ruhm gekommen waren.“

So geht das dauernd, die Überraschu­ngen und spannenden Gedanken kommen aus dem Hinterhalt, auf jeder Seite. Eigentlich unbeschrei­blich, in Kürze und schnell schon gar nicht. Daher: unbedingt selber lesen.

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Nora Bossong: Schutzzone Suhrkamp, 332 Seiten, 24 Euro

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