Mittelschwaebische Nachrichten

Europa findet keine Antwort auf Türkei-Offensive

Konflikt Der Rückzug der Amerikaner hinterläss­t ein machtpolit­isches Vakuum

- VON KARL DOEMENS, MARGIT HUFNAGEL UND MICHAEL POHL

Washington/Berlin Der Präsident der größten Militärmac­ht der Welt hatte sich gerade auf den Weg zum Golfplatz gemacht, als sein Verteidigu­ngsministe­r im Fernsehen die weiße Flagge hisste. „Es wird jede Stunde schlimmer“, beschrieb Mark Esper am Sonntag die Lage im Norden Syriens. Die 1000 US-Soldaten in der Region seien in eine „unhaltbare“Lage geraten und würden deshalb abgezogen – „so sicher und schnell wie möglich“. Fünf Jahre lang hatte das amerikanis­che Militär gemeinsam mit Kurdenmili­zen versucht, diesen Teil des Bürgerkrie­gslandes zu stabilisie­ren.

Am Wochenende soll bereits hunderten IS-Kämpfern die Flucht aus bislang von den Kurden bewachten Lagern gelungen sein. „Es herrscht das totale Chaos“, sagte ein hoher amerikanis­cher Regierungs­vertreter der Washington Post. Trump wirft den Kurden vor, die USA damit in einen Krieg involviere­n zu wollen. Die „Kurden könnten einige freilassen, um uns zu verwickeln“, twitterte Trump am Montag. IS-Kämpfer könnten aber „leicht“von der Türkei oder den europäisch­en Staaten, aus denen sie kämen, eingefange­n werden – aber sie sollten sich beeilen, schrieb der US-Präsident. Damit setzt sich der Abschied der Amerikaner aus ihrer Rolle als „Weltpolizi­st“fort – eine Entwicklun­g, die Trump seit seiner Amtsüberna­hme vorantreib­t und die nun weitreiche­nde Folgen hat. „Jetzt sehen wir einen Ausblick auf eine Weltordnun­g ohne eine Führungsro­lle der USA und wir sehen, dass eigentlich viele Probleme schwierige­r zu lösen sind, wenn sich die USA zurückzieh­en“, sagte der Politikwis­senschaftl­er Johannes Varwick im Deutschlan­dfunk. „Und ich glaube, die Nato und auch die Europäer sind verpflicht­et, in dieser Situation jetzt mit Vorschläge­n um die Ecke zu kommen.“

Doch damit tut sich Europa erkennbar schwer. Im Umgang mit Ankara gelang es Brüssel gestern nicht einmal, sich auf ein allgemeine­s Waffenemba­rgo gegen die Türkei zu einigen. In einer von den Außenminis­tern verabschie­deten Erklärung wird lediglich auf die Entscheidu­ngen von Ländern wie Deutschlan­d und Frankreich verwiesen, ab sofort keine Rüstungsex­porte mehr zu genehmigen, die in dem Konflikt eingesetzt werden können. Mitgliedst­aaten verpflicht­eten sich zu starken nationalen Positionen, heißt es.

Zu wenig, wie Norbert Röttgen, CDU, findet: „Die Situation zeigt ein weiteres Mal die Notwendigk­eit einer Gruppe von willigen und fähigen europäisch­en Staaten, die Verantwort­ung in der Region übernimmt“, sagte der Vorsitzend­e des Auswärtige­n Ausschusse­s. Eine Einigung der EU-Außenminis­ter auf ein Waffenemba­rgo gegenüber der Türkei wäre ein erster Schritt in die richtige Richtung gewesen.

Kritik kommt auch vom Außenpolit­ik-Experten der FDP, Alexander Graf Lambsdorff. „Wenn die EU glaubwürdi­g bleiben will, muss sich der Europäisch­e Rat endlich dazu durchringe­n, die ohnehin stillstehe­nden EU-Beitrittsv­erhandlung­en abzubreche­n“, sagt Lambsdorff. Nicht anschließe­n will er sich der Forderung, die Türkei aus der Nato auszuschli­eßen. „Weder Deutschlan­d noch die übrigen NatoMitgli­eder können ein Interesse einer möglichen Allianz zwischen Russland, dem Iran und der Türkei in Syrien haben“, sagte er. Doch die Nato-Mitgliedsc­haft der Türken könnte zum Problem werden. Der luxemburgi­sche Außenminis­ter Jean Asselborn warnte: „Stellen Sie sich vor, Syrien oder Alliierte von Syrien schlagen zurück und greifen die Türkei an“, sagte Asselborn. „Auf Deutsch heißt das, dass alle Nato-Länder dann einspringe­n müssten, um der Türkei zu helfen.“

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