Mittelschwaebische Nachrichten
Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (90)
Plötzlich, als sie eben den Sturmbock mit letzter Kraft spielen ließen, als jeder der Stürmenden seinen Athem an sich hielt und seine Muskeln anspannte, um dem entscheidenden Schlage mehr Nachdruck zu geben, erhob sich in ihrer Mitte ein noch furchtbareres Geheul, als der Fall des großen Balkens verursacht hatte. Wer nicht todt oder verwundet war, blickte staunend in die Höhe. Zwei Ströme geschmolzenen Bleis ergossen sich von oben herab auf die dichtgedrängte Menge. Todte und Verwundete lagen auf dem Boden umher. Das Geschrei der Verwundeten und Sterbenden war herzzerreißend. Die Angreifenden ließen den Sturmbock fallen und flohen bestürzt davon. Zum zweiten Male war der Sturm abgeschlagen.
Alle Blicke richteten sich nun auf die Plattform. Auf dem obersten Gipfel der Galerie sah man zwischen den beiden Glockentürmen eine große, hochemporschlagende Flamme aufsteigen. Unterhalb dieser Flamme spieen zwei Dachrinnen, welche
offene Rachen von Ungeheuern darstellten, unaufhörlich einen feurigen Regen aus, der sich über der großen Eingangspforte ergoß.
Die Angreifenden verstummten vor Schrecken, und man konnte jetzt das Angstgeschrei der in ihrem Kloster eingeschlossenen Mönche deutlich hören. Die Anführer der Armee des Königreichs Kauderwelsch hatten sich inzwischen unter den Balkon des Hauses Gondelaurier zurückgezogen und hielten dort Kriegsrath. Der Herzog von Aegypten, auf dem Rande eines Brunnens sitzend, betrachtete mit abergläubischer Furcht das phantasmagorische Feuer, das zwischen den Thürmen brannte, und die glühende Lava, die sich aus einer Höhe von zweihundert Fuß ergoß.
Clopin Trouillefou ballte wüthend seine plumpen Fäuste und murmelte zwischen den Zähnen: Es ist nicht möglich, dem Eingang zu nahen!
„Das ist eine alte verhexte Kirche,“sagte der Zigeunerfürst, Matthias Hungadi Spiccali. „Seht Ihr dort die Teufelsgestalt, die vor dem Feuer hin und herlauft?“
„Das ist ja der verfluchte Glöckner der Liebfrauenkirche, der verdammte Quasimodo,“rief Clopin Trouillefou aus.
Der Herzog von Aegypten schüttelte den Kopf: „Ich sage Euch, es ist der Geist Sabnac, der Dämon der Festungswerke. Er gleicht einem bewaffneten Soldaten und hat einen Löwenkopf. Bisweilen reitet er auf einem scheußlichen Pferde. Er verwandelt die Menschen in Steine und baut damit seine Thürme. Er hat fünfzig Legionen Teufel unter sich; ich kenne ihn wohl, dort oben steht er. Bisweilen trägt er auch ein schönes goldenes Kleid nach türkischem Schnitt.“
„Wo ist Bellevigne de l’Etoile?“fragte Clopin Trouillefou.
„Er ist todt,“antwortete ein Weib.
„Gibt es denn kein Mittel, durch diese Pforte einzudringen?“schrie König Clopin wüthend und stampfte mit dem Fuße auf die Erde.
Der Herzog von Aegypten deutete betrübt auf die beiden geschmolzenen Bäche Blei’s, die noch immer von oben herabfloßen, und sagte seufzend: „Man hat Kirchen gesehen, die sich selbst vertheidigten. Die Sophienkirche zu Constantinopel, es sind jetzt vierzig Jahre her, hat Mahomets Halbmond dreimal hinter einander zur Erde geworfen, indem sie ihre Thürme, gleich einem lebendigen Haupte, schüttelte. Wilhelm von Paris, der die Liebfrauenkirche gebaut hat, war ein Zauberer.“
„Sollen wir denn Reißaus nehmen, wie begossene Hunde, und unsere Schwester morgen hängen lassen?“fragte Clopin Trouillefou.
„Und die Sakristei, wo man einen Wagen Gold und Silber aufladen kann?“fügte einer der Gauner hinzu.
„Bei Mahomets Bart! Wir müssen noch einen Versuch machen,“schrie der König.
Der Herzog von Aegypten schüttelte den Kopf: „Durch die große Pforte kommen wir nicht hinein. Man muß ein Hinterpförtchen suchen; irgend ein Fenster, irgend ein Loch, auf das der Zauber der alten Hexe nicht wirkt.“
„Frisch an’s Werk! Wer ist mit mir?“fragte Clopin Trouillefou. Wo ist denn der kleine Student in seiner eisernen Rüstung?“fügte er hinzu.
„Er wird wohl todt sein, man hört ihn nicht mehr lachen,“antwortete ein Gauner.
„Um so schlimmer, denn er war ein muthiger Junge. Und wo ist Peter Gringoire.“
„Hauptmann, er hat sich aus dem Staube gemacht, ehe wir noch das Ufer des Flusses erreicht hatten.“
„Hol ihn der Teufel, den Schwätzer! Er führt uns da mitten in den Dreck und läßt uns darin sitzen!“
„Da kommt der kleine Student!“riefen mehrere Stimmen.
„Gelobt sei Pluto!“sagte Clopin; „aber was schleift er denn da nach sich?“
Es war wirklich der Mühlenhans, der eine lange Leiter auf dem Pflaster nach sich schleifte und so schnell herbeikam, als ihm seine gewichtige Rüstung erlaubte.
„Te Deum laudamus!“rief der Student schon von Ferne. „Hier ist die Leiter der Packer vom Hafen Saint Landry.“
Clopin Trouillefou ging auf ihn zu: „Sohn, was willst Du mit dieser Leiter machen?“
„Ich habe sie,“antwortete Johannes athemlos. „Ich wußte, wo sie war. Unter dem Schoppen des Hauses, wo der Lieutenant wohnt. Es ist ein Mädchen dort, die ich kenne, und die mich schön findet wie Cupido. Ich habe ihr gute Worte gegeben, bis ich die Leiter hatte.“
„Recht, aber was willst Du mit dieser Leiter machen?“fragte Clopin.
Der Mühlenhans warf einen schelmischen Blick auf ihn und erwiederte mit angenommener Würde: „Was ich damit machen will, erhabener König des Königreichs Kauderwelsch? Seht Ihr dort jene Reihe von Bildsäulen, die so dumme Gesichter haben?“
„Ja! Und was weiter?“
„Das ist die Galerie der Könige von Frankreich.“
„Was liegt mir daran!“
„So wartet doch! Am Ausgang dieser Galerie ist eine Thüre, die nur mit einer Klinke geschlossen ist. Mit dieser Leiter steige ich hinauf, und ich bin in der Kirche.“
„Herzenssohn, laß mich zuerst hinaufsteigen.“
„Nicht doch, Freund! Die Leiter gehört mir. Du magst der Zweite sein.“
„Hol Dich der Teufel! Ich bin König und der Zweite von Niemand.“
„Je nun, König, so hole Dir eine Leiter!“
Der Mühlenhans zog seine Leiter nach sich und schrie, indem er über den Platz weglief, mit lauter Stimme: „Mir nach, Kinder!“
In einem Augenblicke war die Leiter an der Galerie aufgestellt. Die Gauner drängten sich um sie her und jeder wollte zuerst hinaufsteigen. Aber der Mühlenhans hielt fest an seinem Rechte und setzte zuerst den Fuß auf die Stufen der Leiter. Er stieg langsam hinauf unter dem Gewicht seiner schweren Rüstung, in der einen Hand seine Armbrust haltend, mit der andern die Stufen der Leiter fassend.