Mittelschwaebische Nachrichten
Lebensentscheidung
Medizin Jedes Jahr treiben in Bayern tausende Frauen ein ungewolltes Kind ab. Warum es immer weniger Ärzte gibt, die den Eingriff vornehmen, welche Nöte die Betroffenen haben – und ob sie je vergessen können
Augsburg Das Ende beginnt am Küchentisch. Ein Glas Wasser steht darauf, daneben liegen drei Tabletten. Anna B. sitzt da, schaut auf die winzigen Pillen und weiß, dass sie gleich ein Leben beenden wird. Das ihres ungeborenen Kindes, wenige Wochen alt, nur ein paar Millimeter groß, eine Ansammlung von Zellen, namenlos. Das Herz aber, das schlägt schon. Anna B. hat es gesehen, auf dem Ultraschall-Monitor bei ihrem Frauenarzt. Die junge Frau zögert kurz, dann nimmt sie die erste Tablette in die Hand und greift nach dem Wasserglas.
Dieser Abend ist mehrere Jahre her. Doch wenn Anna B. – die eigentlich anders heißt, aber anonym bleiben möchte – heute davon erzählt, dann merkt man, dass die Vergangenheit für sie irgendwie auch Gegenwart ist. „Mich verfolgt das bis heute“, sagt die Frau mit den langen braunen Haaren. Sie sitzt an einem großen Holztisch in ihrer Altbauwohnung in der Augsburger Innenstadt, an der petrolfarbenen Wand hinter ihr stehen alte Kaffeemühlen auf einem weißen Regal, auf dem Sofa nebenan dösen zwei Katzen. „Meine Geschichte ist eine traurige Geschichte“, sagt sie und blickt nachdenklich durchs Fenster ins Grau dieses Oktobermorgens. „Aber diese Geschichte gehört zu meinem Leben.“
So wie Anna B. treiben in Deutschland pro Jahr mehr als 100 000 Frauen ihr Kind ab. In Bayern waren es im vergangenen Jahr 11600. Hinter diesem Zahlenwerk des Statistischen Bundesamtes stecken tausende persönliche Schicksale und Geschichten. Geschichten über Angst und Einsamkeit, über unerfüllte Liebe, über Reue und Schmerz. Was macht so ein Eingriff mit einer Frau? Wie fällt man übertag. haupt so eine gewichtige Entscheidung? Und kann man eigentlich jemals vergessen?
Anna B. hat dieses Gefühlschaos nicht nur einmal durchgemacht. Als sie 17 ist, wird sie ungewollt schwanger und treibt das erste Mal ab. Anfang 20 erwartet sie wieder ein Kind, sie hatte einmal vergessen, die Pille zu nehmen. Auch diese Schwangerschaft bricht sie ab. Mit 29 Jahren wird Anna B. das dritte Mal schwanger. Sie freut sich, will das Baby behalten. Ihr Freund sieht das anders. Anna B. weiß nicht, was sie tun soll. „Ich wollte ihn nicht verlieren, aber das Kind eben auch nicht. Und ich hatte Angst, mit dem Baby allein dazustehen, wenn ich es bekomme“, erzählt die zierliche 40-Jährige und streicht sich mit der Hand die Haare aus der Stirn.
Warum sie überhaupt wieder schwanger wurde, kann sich Anna B., die von ihrem damaligen Partner längst getrennt ist, nicht so recht erklären. „Ich habe die Pille genommen. Aber vielleicht habe ich sie mal vergessen und das nicht wahrgenommen“, sagt sie. Schließlich entscheidet sie sich damals wieder für einen Abbruch. Sie geht zur Schwangerenkonfliktberatung, bekommt einen Schein ausgestellt und vom Arzt die Abtreibungspillen – eine von mehreren Möglichkeiten, eine Schwangerschaft zu beenden. Sie geht nach Hause, setzt sich an den Küchentisch und spült das Medikament hinunter. Bereut sie es? Anna B. macht eine lange Pause, dann schüttelt sie den Kopf. „Nein, ich bereue es nicht. Ich bin froh, dass ich keine Kinder habe.“
Lange wurde dafür gekämpft, dass Frauen ein Recht auf Selbstbestimmung haben. Dass sie entscheiden können, was mit ihnen, ihrem Körper, ihrem Leben passiert. Die Frauenbewegung der 1970er hatte sich dafür eingesetzt, dass Frauen das Recht haben sollten, sich ohne Strafandrohung gegen ein Kind entscheiden zu dürfen.
Juristisch betrachtet ist es heute so: Ein Schwangerschaftsabbruch ist grundsätzlich rechtswidrig. So steht es in Paragraf 218 des Strafgesetzbuches. Er bleibt aber straffrei, wenn er innerhalb der ersten drei Monate und nach einer Konfliktberatung durchgeführt wird. Nicht rechtswidrig und somit straffrei sind Abtreibungen, die medizinisch notwendig sind, etwa, weil das Leben der Frau in Gefahr ist. Das Gleiche gilt, wenn eine Frau durch sexuellen Missbrauch schwanger wird. Die allermeisten Abtreibungen in Bayern – 2018 waren es mehr als 10900 – fallen aber unter die sogenannte Beratungsregelung.
Ein Verein, der Frauen in Ausnahmesituationen berät, ist Donum Vitae, der in diesem Jahr sein 20-jähriges Bestehen feiert. Nach dem Ausstieg der katholischen Bischöfe aus dem gesetzlichen Beratungssystem wurde Donum Vitae 1999 von Mitgliedern des Zentralkomitees der deutschen Katholiken gegründet. Reibungslos lief das nicht ab, vonseiten der Kirche gab es über Jahre massive Kritik. 20 Donum-Vitae-Beratungsstellen gibt es allein in Bayern, eine davon ist in Kaufbeuren, in einem unscheinbaren Haus in einem unscheinbaren Wohngebiet. Häuschen mit kleinen Vorgärten reihen sich aneinander, von den Bäumen taumelt müdes Herbstlaub auf die Straße, es ist ein wolkiger warmer Herbstnachmitvor Konfliktberaterin Mirjam Schäffler bittet in ihr Büro, einen Raum mit grauem Teppichboden, grauen Stühlen, weißem Tisch. Auf einer Kommode steht eine Packung Taschentücher, die die 41-jährige Sozialpädagogin immer griffbereit hat. Tränen fließen hier oft. Die einen, sagt Schäffler, kommen hierher und sind sich schon sicher, dass sie das Kind nicht wollen; andere wissen noch nicht, ob sie die Schwangerschaft wirklich abbrechen möchten. „Die Beratungen finden zum Schutz des ungeborenen Lebens statt, die Frauen dürfen aber nicht unter Druck gesetzt werden“, sagt sie. „Die Beratung ist ergebnisoffen, es wird niemand überredet.“
Gründe, warum eine Frau das Kind, das in ihr wächst, nicht haben will, gibt es viele. Die einen fühlen sich überfordert, psychisch nicht in der Lage, eine so große Verantwortung zu übernehmen, andere hegen keinen Kinderwunsch, und bei wieder anderen ist die Familienplanung längst abgeschlossen. Letzteres sei besonders häufig der Fall, sagt Schäffler. „Die Frauen haben schon mehrere Kinder und befürchten, dass sie ein weiteres überfordern würde.“Am Ende entscheide sich mehr als die Hälfte der Frauen, die in ihre Beratung kommen, für einen Abbruch der Schwangerschaft.
Und diese Frauen stehen dann oft einem zusätzlichen Problem: Es gibt nur sehr wenige Ärzte, die überhaupt Abtreibungen durchführen. Beispiel Augsburg. „Offiziell gibt es keinen Arzt, der Schwangerschaftsabbrüche vornimmt“, bemängelt Inge Christensen, Leiterin der Pro-Familia-Beratungsstelle in Augsburg. Von einer wohnortnahen Versorgung könne da nicht die Rede sein. Es gebe Regionen in Bayern, in denen Frauen lange Wege – mehr als 100 Kilometer – zurücklegen müssten, um zu einem entsprechenden Arzt zu kommen. Und in ganz Schwaben gibt es tatsächlich nur eine einzige Klinik, die Schwangerschaftsabbrüche im Rahmen der Beratungsregelung vornimmt: die Donau-Ries Klinik in Donauwörth. Bayernweit sind es nach Angaben des Gesundheitsministeriums 24 Krankenhäuser.
Das Problem wird sich wohl noch verschärfen: Die Zahl der Arztpraxen und Kliniken, die Abbrüche durchführen, nimmt im gesamten Bundesgebiet massiv ab. Nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes gibt es seit 2003 einen Rückgang von 40 Prozent.
Den Medizinern wird es auch nicht unbedingt leicht gemacht. Monatelang hatte die Große Koalition in Berlin darüber debattiert, wie und ob Ärzte darauf hinweisen dürfen, dass sie Schwangerschaftsabbrüche vornehmen. Anfang dieses Jahres dann gab es einen Kompromiss: Werbung für Schwangerschaftsabbrüche ist weiter strafbar – Ärzte dürfen aber darauf hinweisen, dass sie den Eingriff anbieten. Detailliertere Informationen, etwa welche Methoden angewandt werden, sind aber weiterhin verboten. ProFamilia-Beraterin Christensen ist das ein Dorn im Auge. Der umstrittene Paragraf 219a müsse komplett gekippt werden, findet sie. „Nur die ersatzlose Streichung kann eine Kriminalisierung von Ärzten verhindern.“Die Mediziner hätten zudem oft Angst vor Anfeindungen und Stigmatisierung, sagt Christensen.
Schwangerschaftsabbrüche sind noch immer ein großes gesellschaftliches Tabu-Thema, es gibt viele Menschen – längst nicht nur in Kirchenkreisen –, für die eine Abtreibung einem Mord gleichkommt. Viele Frauen vertrauen sich deshalb nur wenigen Personen an. So wie Katharina S., 31 Jahre alt. Die Augsburgerin hat ebenfalls abgetrieben – die Leute, die davon wissen, kann sie an einer Hand abzählen. Katharina S., die ihren echten Namen deswegen nicht in der Zeitung lesen will, sagt: „Das bespricht man nicht in der Öffentlichkeit, das behält man lieber für sich.“
Katharina S. wird mit 23 Jahren schwanger. Dass sie ein Kind erwartet, erfährt sie, als sie schon von ihrem damaligen Partner getrennt ist. „Ich hatte erst seit zwei Monaten einen
Anna B. hat drei Abtreibungen hinter sich
Katharina S. bereut den Abbruch bis heute
neuen Job. Den wollte ich nicht verlieren. Und alleinerziehend wollte ich auch nicht sein“, sagt sie, hält inne und fügt hinzu: „Ich bin selbst Scheidungskind. Ich wollte nicht, dass das Kind ohne Papa aufwächst.“Katharina S. entscheidet sich für eine Abtreibung – und bereut das bis heute. „Und das wird mein Leben lang so sein“, sagt sie. „Der Gedanke, dass man ein Leben beendet hat, ist schlimm. Ich könnte diesen Schritt nicht noch einmal gehen.“Damals aber habe sie keine andere Möglichkeit gesehen.
Mittlerweile ist Katharina S. Mutter. Wenn sie ihr kleines Baby im Arm hält und sanft in den Schlaf wiegt, denkt sie oft an dieses andere Kind, das es hätte geben können, wenn sie sich anders entschieden hätte. Damals bekam Katharina S. vom Arzt die Abtreibungspille – nach der Absaugung ist das die zweithäufigste Abtreibungsmethode. Katharina S. denkt noch oft an jenen Moment, in dem sie zu Hause saß und die Tablette hinunterschluckte. An jenen Moment, in dem das Ende begann.