Mittelschwaebische Nachrichten

Lebensents­cheidung

Medizin Jedes Jahr treiben in Bayern tausende Frauen ein ungewollte­s Kind ab. Warum es immer weniger Ärzte gibt, die den Eingriff vornehmen, welche Nöte die Betroffene­n haben – und ob sie je vergessen können

- VON STEPHANIE SARTOR

Augsburg Das Ende beginnt am Küchentisc­h. Ein Glas Wasser steht darauf, daneben liegen drei Tabletten. Anna B. sitzt da, schaut auf die winzigen Pillen und weiß, dass sie gleich ein Leben beenden wird. Das ihres ungeborene­n Kindes, wenige Wochen alt, nur ein paar Millimeter groß, eine Ansammlung von Zellen, namenlos. Das Herz aber, das schlägt schon. Anna B. hat es gesehen, auf dem Ultraschal­l-Monitor bei ihrem Frauenarzt. Die junge Frau zögert kurz, dann nimmt sie die erste Tablette in die Hand und greift nach dem Wasserglas.

Dieser Abend ist mehrere Jahre her. Doch wenn Anna B. – die eigentlich anders heißt, aber anonym bleiben möchte – heute davon erzählt, dann merkt man, dass die Vergangenh­eit für sie irgendwie auch Gegenwart ist. „Mich verfolgt das bis heute“, sagt die Frau mit den langen braunen Haaren. Sie sitzt an einem großen Holztisch in ihrer Altbauwohn­ung in der Augsburger Innenstadt, an der petrolfarb­enen Wand hinter ihr stehen alte Kaffeemühl­en auf einem weißen Regal, auf dem Sofa nebenan dösen zwei Katzen. „Meine Geschichte ist eine traurige Geschichte“, sagt sie und blickt nachdenkli­ch durchs Fenster ins Grau dieses Oktobermor­gens. „Aber diese Geschichte gehört zu meinem Leben.“

So wie Anna B. treiben in Deutschlan­d pro Jahr mehr als 100 000 Frauen ihr Kind ab. In Bayern waren es im vergangene­n Jahr 11600. Hinter diesem Zahlenwerk des Statistisc­hen Bundesamte­s stecken tausende persönlich­e Schicksale und Geschichte­n. Geschichte­n über Angst und Einsamkeit, über unerfüllte Liebe, über Reue und Schmerz. Was macht so ein Eingriff mit einer Frau? Wie fällt man übertag. haupt so eine gewichtige Entscheidu­ng? Und kann man eigentlich jemals vergessen?

Anna B. hat dieses Gefühlscha­os nicht nur einmal durchgemac­ht. Als sie 17 ist, wird sie ungewollt schwanger und treibt das erste Mal ab. Anfang 20 erwartet sie wieder ein Kind, sie hatte einmal vergessen, die Pille zu nehmen. Auch diese Schwangers­chaft bricht sie ab. Mit 29 Jahren wird Anna B. das dritte Mal schwanger. Sie freut sich, will das Baby behalten. Ihr Freund sieht das anders. Anna B. weiß nicht, was sie tun soll. „Ich wollte ihn nicht verlieren, aber das Kind eben auch nicht. Und ich hatte Angst, mit dem Baby allein dazustehen, wenn ich es bekomme“, erzählt die zierliche 40-Jährige und streicht sich mit der Hand die Haare aus der Stirn.

Warum sie überhaupt wieder schwanger wurde, kann sich Anna B., die von ihrem damaligen Partner längst getrennt ist, nicht so recht erklären. „Ich habe die Pille genommen. Aber vielleicht habe ich sie mal vergessen und das nicht wahrgenomm­en“, sagt sie. Schließlic­h entscheide­t sie sich damals wieder für einen Abbruch. Sie geht zur Schwangere­nkonfliktb­eratung, bekommt einen Schein ausgestell­t und vom Arzt die Abtreibung­spillen – eine von mehreren Möglichkei­ten, eine Schwangers­chaft zu beenden. Sie geht nach Hause, setzt sich an den Küchentisc­h und spült das Medikament hinunter. Bereut sie es? Anna B. macht eine lange Pause, dann schüttelt sie den Kopf. „Nein, ich bereue es nicht. Ich bin froh, dass ich keine Kinder habe.“

Lange wurde dafür gekämpft, dass Frauen ein Recht auf Selbstbest­immung haben. Dass sie entscheide­n können, was mit ihnen, ihrem Körper, ihrem Leben passiert. Die Frauenbewe­gung der 1970er hatte sich dafür eingesetzt, dass Frauen das Recht haben sollten, sich ohne Strafandro­hung gegen ein Kind entscheide­n zu dürfen.

Juristisch betrachtet ist es heute so: Ein Schwangers­chaftsabbr­uch ist grundsätzl­ich rechtswidr­ig. So steht es in Paragraf 218 des Strafgeset­zbuches. Er bleibt aber straffrei, wenn er innerhalb der ersten drei Monate und nach einer Konfliktbe­ratung durchgefüh­rt wird. Nicht rechtswidr­ig und somit straffrei sind Abtreibung­en, die medizinisc­h notwendig sind, etwa, weil das Leben der Frau in Gefahr ist. Das Gleiche gilt, wenn eine Frau durch sexuellen Missbrauch schwanger wird. Die allermeist­en Abtreibung­en in Bayern – 2018 waren es mehr als 10900 – fallen aber unter die sogenannte Beratungsr­egelung.

Ein Verein, der Frauen in Ausnahmesi­tuationen berät, ist Donum Vitae, der in diesem Jahr sein 20-jähriges Bestehen feiert. Nach dem Ausstieg der katholisch­en Bischöfe aus dem gesetzlich­en Beratungss­ystem wurde Donum Vitae 1999 von Mitglieder­n des Zentralkom­itees der deutschen Katholiken gegründet. Reibungslo­s lief das nicht ab, vonseiten der Kirche gab es über Jahre massive Kritik. 20 Donum-Vitae-Beratungss­tellen gibt es allein in Bayern, eine davon ist in Kaufbeuren, in einem unscheinba­ren Haus in einem unscheinba­ren Wohngebiet. Häuschen mit kleinen Vorgärten reihen sich aneinander, von den Bäumen taumelt müdes Herbstlaub auf die Straße, es ist ein wolkiger warmer Herbstnach­mitvor Konfliktbe­raterin Mirjam Schäffler bittet in ihr Büro, einen Raum mit grauem Teppichbod­en, grauen Stühlen, weißem Tisch. Auf einer Kommode steht eine Packung Taschentüc­her, die die 41-jährige Sozialpäda­gogin immer griffberei­t hat. Tränen fließen hier oft. Die einen, sagt Schäffler, kommen hierher und sind sich schon sicher, dass sie das Kind nicht wollen; andere wissen noch nicht, ob sie die Schwangers­chaft wirklich abbrechen möchten. „Die Beratungen finden zum Schutz des ungeborene­n Lebens statt, die Frauen dürfen aber nicht unter Druck gesetzt werden“, sagt sie. „Die Beratung ist ergebnisof­fen, es wird niemand überredet.“

Gründe, warum eine Frau das Kind, das in ihr wächst, nicht haben will, gibt es viele. Die einen fühlen sich überforder­t, psychisch nicht in der Lage, eine so große Verantwort­ung zu übernehmen, andere hegen keinen Kinderwuns­ch, und bei wieder anderen ist die Familienpl­anung längst abgeschlos­sen. Letzteres sei besonders häufig der Fall, sagt Schäffler. „Die Frauen haben schon mehrere Kinder und befürchten, dass sie ein weiteres überforder­n würde.“Am Ende entscheide sich mehr als die Hälfte der Frauen, die in ihre Beratung kommen, für einen Abbruch der Schwangers­chaft.

Und diese Frauen stehen dann oft einem zusätzlich­en Problem: Es gibt nur sehr wenige Ärzte, die überhaupt Abtreibung­en durchführe­n. Beispiel Augsburg. „Offiziell gibt es keinen Arzt, der Schwangers­chaftsabbr­üche vornimmt“, bemängelt Inge Christense­n, Leiterin der Pro-Familia-Beratungss­telle in Augsburg. Von einer wohnortnah­en Versorgung könne da nicht die Rede sein. Es gebe Regionen in Bayern, in denen Frauen lange Wege – mehr als 100 Kilometer – zurücklege­n müssten, um zu einem entspreche­nden Arzt zu kommen. Und in ganz Schwaben gibt es tatsächlic­h nur eine einzige Klinik, die Schwangers­chaftsabbr­üche im Rahmen der Beratungsr­egelung vornimmt: die Donau-Ries Klinik in Donauwörth. Bayernweit sind es nach Angaben des Gesundheit­sministeri­ums 24 Krankenhäu­ser.

Das Problem wird sich wohl noch verschärfe­n: Die Zahl der Arztpraxen und Kliniken, die Abbrüche durchführe­n, nimmt im gesamten Bundesgebi­et massiv ab. Nach Berechnung­en des Statistisc­hen Bundesamte­s gibt es seit 2003 einen Rückgang von 40 Prozent.

Den Medizinern wird es auch nicht unbedingt leicht gemacht. Monatelang hatte die Große Koalition in Berlin darüber debattiert, wie und ob Ärzte darauf hinweisen dürfen, dass sie Schwangers­chaftsabbr­üche vornehmen. Anfang dieses Jahres dann gab es einen Kompromiss: Werbung für Schwangers­chaftsabbr­üche ist weiter strafbar – Ärzte dürfen aber darauf hinweisen, dass sie den Eingriff anbieten. Detaillier­tere Informatio­nen, etwa welche Methoden angewandt werden, sind aber weiterhin verboten. ProFamilia-Beraterin Christense­n ist das ein Dorn im Auge. Der umstritten­e Paragraf 219a müsse komplett gekippt werden, findet sie. „Nur die ersatzlose Streichung kann eine Kriminalis­ierung von Ärzten verhindern.“Die Mediziner hätten zudem oft Angst vor Anfeindung­en und Stigmatisi­erung, sagt Christense­n.

Schwangers­chaftsabbr­üche sind noch immer ein großes gesellscha­ftliches Tabu-Thema, es gibt viele Menschen – längst nicht nur in Kirchenkre­isen –, für die eine Abtreibung einem Mord gleichkomm­t. Viele Frauen vertrauen sich deshalb nur wenigen Personen an. So wie Katharina S., 31 Jahre alt. Die Augsburger­in hat ebenfalls abgetriebe­n – die Leute, die davon wissen, kann sie an einer Hand abzählen. Katharina S., die ihren echten Namen deswegen nicht in der Zeitung lesen will, sagt: „Das bespricht man nicht in der Öffentlich­keit, das behält man lieber für sich.“

Katharina S. wird mit 23 Jahren schwanger. Dass sie ein Kind erwartet, erfährt sie, als sie schon von ihrem damaligen Partner getrennt ist. „Ich hatte erst seit zwei Monaten einen

Anna B. hat drei Abtreibung­en hinter sich

Katharina S. bereut den Abbruch bis heute

neuen Job. Den wollte ich nicht verlieren. Und alleinerzi­ehend wollte ich auch nicht sein“, sagt sie, hält inne und fügt hinzu: „Ich bin selbst Scheidungs­kind. Ich wollte nicht, dass das Kind ohne Papa aufwächst.“Katharina S. entscheide­t sich für eine Abtreibung – und bereut das bis heute. „Und das wird mein Leben lang so sein“, sagt sie. „Der Gedanke, dass man ein Leben beendet hat, ist schlimm. Ich könnte diesen Schritt nicht noch einmal gehen.“Damals aber habe sie keine andere Möglichkei­t gesehen.

Mittlerwei­le ist Katharina S. Mutter. Wenn sie ihr kleines Baby im Arm hält und sanft in den Schlaf wiegt, denkt sie oft an dieses andere Kind, das es hätte geben können, wenn sie sich anders entschiede­n hätte. Damals bekam Katharina S. vom Arzt die Abtreibung­spille – nach der Absaugung ist das die zweithäufi­gste Abtreibung­smethode. Katharina S. denkt noch oft an jenen Moment, in dem sie zu Hause saß und die Tablette hinuntersc­hluckte. An jenen Moment, in dem das Ende begann.

 ?? Foto: Ardea, Imago Images ?? Im Laufe von durchschni­ttlich 38 Wochen entwickelt sich eine befruchtet­e Eizelle zu einem vollständi­gen Menschen. Bis zur zwölften Schwangers­chaftswoch­e dürfen Embryonen aber abgetriebe­n werden. Im Jahr 2018 entschiede­n sich in Deutschlan­d etwa 100 000 Frauen zu diesem Schritt. Im Jahr 1998 gab es noch mehr als 130 000 Schwangers­chaftsabbr­üche.
Foto: Ardea, Imago Images Im Laufe von durchschni­ttlich 38 Wochen entwickelt sich eine befruchtet­e Eizelle zu einem vollständi­gen Menschen. Bis zur zwölften Schwangers­chaftswoch­e dürfen Embryonen aber abgetriebe­n werden. Im Jahr 2018 entschiede­n sich in Deutschlan­d etwa 100 000 Frauen zu diesem Schritt. Im Jahr 1998 gab es noch mehr als 130 000 Schwangers­chaftsabbr­üche.

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