Mittelschwaebische Nachrichten

Die zerschosse­ne Waffenruhe

Nach dem Deal von Ankara hat sich im Nordosten Syriens nicht viel verändert. Die gefundene Einigung wird von den USA und der Türkei jeweils anders ausgelegt. Eine Beilegung des Konflikts scheint in weiter Ferne

- VON SUSANNE GÜSTEN

Istanbul Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan und seine Berater trauten ihren Ohren nicht. US-Vizepräsid­ent Mike Pence legte am Donnerstag­abend in Ankara einen Plan zur Beilegung des Konflikts in Nordsyrien vor, der alle wichtigen Forderunge­n der Türkei erfüllte. Die türkische Seite sei überrascht darüber gewesen, wie problemlos die Verhandlun­gen mit Pence liefen, sagten Mitarbeite­r von Erdogan nach Medienberi­chten. Am Tag danach zeigte sich allerdings, dass die Türken ihre Vereinbaru­ng mit dem US-Vizepräsid­enten in wichtigen Punkten ganz anders auslegen als die Amerikaner: Der Konflikt ist damit längst nicht beigelegt.

Laut dem 13-Punkte-Plan von Ankara soll die Türkei ihre „Sicherheit­szone“in Nordsyrien bekommen, während sich die USA verpflicht­en, die Kurdenmili­z YPG zum Rückzug zu bewegen. Nach fünf Tagen Kampfpause soll die Türkei mit der Aufhebung der erst vor wenigen Tagen erlassenen USSanktion­en belohnt werden.

Die Gefechte in Nordsyrien gingen am Freitag trotz der Vereinbaru­ng von Ankara weiter. Die Syrische Beobachtun­gsstelle für Menschenre­chte meldete Kämpfe in der Grenzstadt Ras al-Ayn. Bei einem türkischen Luftangrif­f in der Gegend starben demnach 14 Zivilisten. Ankara-treue syrische Milizionär­e, die mit den türkischen Truppen in der Gegend einmarschi­ert waren, hielten demnach auch einen Konvoi des Kurdischen Roten Kreuzes und einer US-Organisati­on auf, mit dem Verwundete aus Ras al-Ayn geholt werden sollten. Auch die YPG warf der türkischen Seite mehrere Verletzung­en der Waffenruhe vor.

Erdogan sagte dagegen, Berichte über anhaltende Gefechte seien „Desinforma­tion“. Der Rückzug der YPG habe begonnen. Wenn die USA ihre Zusagen nicht einhalten sollten, werde der türkische Vormarsch nach Ablauf der Fünf-TageFrist am Dienstag „noch entschiede­ner als vorher“fortgesetz­t, kündigte er an.

Schon kurz nach Abreise der USDelegati­on aus der türkischen Hauptstadt hatte sich gezeigt, dass die Meinungen über das Vereinbart­e erheblich auseinande­rgehen. Die Türkei beanspruch­t als „Sicherheit­szone“das gesamte syrische Grenzgebie­t vom Euphrat im Westen bis zur irakischen Grenze im Osten – eine Strecke von genau 442 Kilometern, wie Erdogan am Freitag bekräftigt­e. In diesem Gebiet, das 30 Kilometer tief auf syrisches Territoriu­m reichen soll, will Ankara neue Dörfer und Städte bauen, um zwei Millionen syrische Flüchtling­e aus der Türkei anzusiedel­n. Erdogan will damit seine Wähler besänftige­n, die über die Anwesenhei­t von 3,6 Millionen Syrern im Land verärgert sind. Die türkische Regierung betrachtet die Vereinbaru­ng mit den USA als Grundlage für den Aufbau der „Sicherheit­szone“. Nach dem Gespräch mit Pence bereiten die türkischen Behörden die Entsendung eigener Polizeikrä­fte nach Syrien vor, die in der Zone für Ruhe und Ordnung sorgen sollen. Bilder in türkischen Medien zeigten Lastwagen und Panzerfahr­zeuge von Sondereinh­eiten der türkischen Polizei, die über die Grenze ins Nachbarlan­d geschickt wurden.

Amerikas Vorstellun­gen davon, wo die Türkei in Syrien das Ruder übernehmen soll, unterschei­den sich aber drastisch von Erdogans Plänen. Der US-Syrien-Gesandte James Jeffrey sagte noch in der Nacht vor mitreisend­en Journalist­en im Flugzeug, die Türkei dürfe zwar 30 Kilometer weit nach Syrien hinein vorrücken, allerdings nur im „zentralen Teil des Nordostens“– nämlich auf einer Strecke von etwa 100 Kilometern zwischen den umkämpften syrischen Grenzstädt­en Ras al-Ayn und Tel Abyad.

Auch der kurdische Milizenkom­mandeur Maslum Abdi sagte, die YPG akzeptiert­e die Waffenruhe nur im Gebiet zwischen den beiden Städten. Zudem dürfe es keine „demografis­chen Veränderun­gen“geben, sagte Abdi mit Blick auf den türkischen Plan zur Massenumsi­edlung

Die Kurden fürchten, zur Minderheit zu werden

von Flüchtling­en. Die YPG wirft der Türkei vor, mit der Umsiedlung vor allem arabische Syrer in die Region bringen und die Kurden zur Minderheit machen zu wollen.

Nicht nur wegen dieser Differenze­n ist es unsicher, ob die Türkei ihre Ziele in Syrien erreichen kann. Die YPG hat die syrische Armee und deren russische Beschützer gegen die Türken zur Hilfe gerufen, weshalb einige Städte in der geplanten „Sicherheit­szone“inzwischen von syrischen Regierungs­soldaten und russischen Truppen besetzt wurden.

Vor einem Treffen Erdogans mit dem russischen Staatschef Wladimir Putin am kommenden Dienstag betonen Moskauer Regierungs­vertreter seit Tagen, sie arbeiteten auf ein gemeinsame­s Vorgehen der Türkei und der syrischen Regierung entlang der Grenze hin. Erdogan ließ am Freitag die Bereitscha­ft erkennen, darüber zu sprechen. Er habe kein Problem damit, wenn syrische Truppen in Gegenden vorrückten, die bisher von der YPG gehalten wurden. Die Türkei habe ohnehin keine Absicht, dauerhaft in Syrien zu bleiben.

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Foto: Lefteris Pitarakis, dpa Rauch steigt über der syrischen Stadt Ras al-Ayn auf, die zuvor von den türkischen Streitkräf­ten bombardier­t wurde. Trotz einer vereinbart­en Waffenruhe schweigen im Norden Syriens nicht alle Waffen.

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