Mittelschwaebische Nachrichten
Die zerschossene Waffenruhe
Nach dem Deal von Ankara hat sich im Nordosten Syriens nicht viel verändert. Die gefundene Einigung wird von den USA und der Türkei jeweils anders ausgelegt. Eine Beilegung des Konflikts scheint in weiter Ferne
Istanbul Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan und seine Berater trauten ihren Ohren nicht. US-Vizepräsident Mike Pence legte am Donnerstagabend in Ankara einen Plan zur Beilegung des Konflikts in Nordsyrien vor, der alle wichtigen Forderungen der Türkei erfüllte. Die türkische Seite sei überrascht darüber gewesen, wie problemlos die Verhandlungen mit Pence liefen, sagten Mitarbeiter von Erdogan nach Medienberichten. Am Tag danach zeigte sich allerdings, dass die Türken ihre Vereinbarung mit dem US-Vizepräsidenten in wichtigen Punkten ganz anders auslegen als die Amerikaner: Der Konflikt ist damit längst nicht beigelegt.
Laut dem 13-Punkte-Plan von Ankara soll die Türkei ihre „Sicherheitszone“in Nordsyrien bekommen, während sich die USA verpflichten, die Kurdenmiliz YPG zum Rückzug zu bewegen. Nach fünf Tagen Kampfpause soll die Türkei mit der Aufhebung der erst vor wenigen Tagen erlassenen USSanktionen belohnt werden.
Die Gefechte in Nordsyrien gingen am Freitag trotz der Vereinbarung von Ankara weiter. Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte meldete Kämpfe in der Grenzstadt Ras al-Ayn. Bei einem türkischen Luftangriff in der Gegend starben demnach 14 Zivilisten. Ankara-treue syrische Milizionäre, die mit den türkischen Truppen in der Gegend einmarschiert waren, hielten demnach auch einen Konvoi des Kurdischen Roten Kreuzes und einer US-Organisation auf, mit dem Verwundete aus Ras al-Ayn geholt werden sollten. Auch die YPG warf der türkischen Seite mehrere Verletzungen der Waffenruhe vor.
Erdogan sagte dagegen, Berichte über anhaltende Gefechte seien „Desinformation“. Der Rückzug der YPG habe begonnen. Wenn die USA ihre Zusagen nicht einhalten sollten, werde der türkische Vormarsch nach Ablauf der Fünf-TageFrist am Dienstag „noch entschiedener als vorher“fortgesetzt, kündigte er an.
Schon kurz nach Abreise der USDelegation aus der türkischen Hauptstadt hatte sich gezeigt, dass die Meinungen über das Vereinbarte erheblich auseinandergehen. Die Türkei beansprucht als „Sicherheitszone“das gesamte syrische Grenzgebiet vom Euphrat im Westen bis zur irakischen Grenze im Osten – eine Strecke von genau 442 Kilometern, wie Erdogan am Freitag bekräftigte. In diesem Gebiet, das 30 Kilometer tief auf syrisches Territorium reichen soll, will Ankara neue Dörfer und Städte bauen, um zwei Millionen syrische Flüchtlinge aus der Türkei anzusiedeln. Erdogan will damit seine Wähler besänftigen, die über die Anwesenheit von 3,6 Millionen Syrern im Land verärgert sind. Die türkische Regierung betrachtet die Vereinbarung mit den USA als Grundlage für den Aufbau der „Sicherheitszone“. Nach dem Gespräch mit Pence bereiten die türkischen Behörden die Entsendung eigener Polizeikräfte nach Syrien vor, die in der Zone für Ruhe und Ordnung sorgen sollen. Bilder in türkischen Medien zeigten Lastwagen und Panzerfahrzeuge von Sondereinheiten der türkischen Polizei, die über die Grenze ins Nachbarland geschickt wurden.
Amerikas Vorstellungen davon, wo die Türkei in Syrien das Ruder übernehmen soll, unterscheiden sich aber drastisch von Erdogans Plänen. Der US-Syrien-Gesandte James Jeffrey sagte noch in der Nacht vor mitreisenden Journalisten im Flugzeug, die Türkei dürfe zwar 30 Kilometer weit nach Syrien hinein vorrücken, allerdings nur im „zentralen Teil des Nordostens“– nämlich auf einer Strecke von etwa 100 Kilometern zwischen den umkämpften syrischen Grenzstädten Ras al-Ayn und Tel Abyad.
Auch der kurdische Milizenkommandeur Maslum Abdi sagte, die YPG akzeptierte die Waffenruhe nur im Gebiet zwischen den beiden Städten. Zudem dürfe es keine „demografischen Veränderungen“geben, sagte Abdi mit Blick auf den türkischen Plan zur Massenumsiedlung
Die Kurden fürchten, zur Minderheit zu werden
von Flüchtlingen. Die YPG wirft der Türkei vor, mit der Umsiedlung vor allem arabische Syrer in die Region bringen und die Kurden zur Minderheit machen zu wollen.
Nicht nur wegen dieser Differenzen ist es unsicher, ob die Türkei ihre Ziele in Syrien erreichen kann. Die YPG hat die syrische Armee und deren russische Beschützer gegen die Türken zur Hilfe gerufen, weshalb einige Städte in der geplanten „Sicherheitszone“inzwischen von syrischen Regierungssoldaten und russischen Truppen besetzt wurden.
Vor einem Treffen Erdogans mit dem russischen Staatschef Wladimir Putin am kommenden Dienstag betonen Moskauer Regierungsvertreter seit Tagen, sie arbeiteten auf ein gemeinsames Vorgehen der Türkei und der syrischen Regierung entlang der Grenze hin. Erdogan ließ am Freitag die Bereitschaft erkennen, darüber zu sprechen. Er habe kein Problem damit, wenn syrische Truppen in Gegenden vorrückten, die bisher von der YPG gehalten wurden. Die Türkei habe ohnehin keine Absicht, dauerhaft in Syrien zu bleiben.